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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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hören wir: »das Gedicht könnte / einen Verlust hüten, einen Strahl scheinenden Lichts / im Herzen einer Gitarre« Und dann, als ob dieser Vers erklärt werden soll: »das Ästhetische ist nur die Gegenwart des Realen / in der Form / In einer Welt ohne Himmel wird die Erde / zum Abgrund. Das Gedicht / ein Trost, ein Merkmal / des Windes …« Diesen Zeilen folgt eine Reihe von Ermahnungen:

    »Beschreib nicht, was die Kamera sehen kann
von deinen Wunden. Und schrei, dass du dich selbst hörst,
schrei, um zu wissen, dass du lebst,
und lebst und dass Leben auf dieser Erde
möglich ist.« (S.   181)
    Schwer zu sagen, wie dieser letzte Übergang zu lesen ist: »Und schrei« – ein Befehl, ein Rat? Oder spricht die Stimme vielleicht ein Verbot aus?
    »Beschreib nicht, was die Kamera sehen kann von deinen Wunden, und schrei, dass du dich selbst hörst«. Ist die Konjunktion »und« hier ein Angelpunkt, sodass das angesprochene Du aufgefordert wird, nicht das zu beschreiben, was die Kamera von seinen Wunden sieht, da die Kamera die Wunde schon registriert hat? Soll dieses »Du« des Gedichts mit seiner Stimme etwas anderes tun, etwas, zu dem die Kamera nicht in der Lage ist? Wir sind hier kontrapunktisch zwischen beiden Lesarten gefangen (und man fragt sich, ob der Kontrapunkt vielleicht die poetische Form der unmöglichen Aufgabe ist,indem er in einer Art Selbstspaltung verläuft). Die Zweideutigkeit setzt sich in einer Wiederholung fort, die immer wieder mit der Konjunktion »und« eingeleitet wird – »und schrei, um zu wissen, dass du lebst«. Fordert diese Stimme zum Schrei auf? Was sie immer wieder zu sagen scheint, ist dies: Eine Reihe von Konjunktionen ist möglich und diese Bindeglieder folgen nicht logisch aufeinander und auch nicht kausal. Das »und« verbindet zwei Sätze, die nicht recht zusammenzupassen scheinen. Es stellt in der Horizontalität der Metonymie Querverbindungen her, denen wir nur mit Staunen folgen können. Das »und« zu Beginn des nicht-kausalen Schritts von der Ermahnung zu dem, was sich wie eine Reihe von Imperativen gibt, wiederholt sich dann mit dem Imperativ selbst: »Und schrei, dass du dich selbst hörst / und schrei, um zu wissen, dass du lebst / und lebst und dass Leben auf dieser Erde möglich ist«. In der nächsten Zeile scheint der Imperativ dann von Said auszugehen, aber auch seine Stimme folgt diesem kontrapunktischen Rhythmus, sie bejaht und bestreitet denselben Anspruch und macht ihn so immer wieder zu einem zweideutigen.
    Aufklärung rückt dann in der nächsten Zeile näher. Noch immer im Modus von Vermächtnis und Imperativ sagt Saids Stimme: »Erfinde eine Hoffnung für die Sprache.« Dieser Vers ist zunächst verwirrend, denn man möchte erwarten, dass der Dichter eher eine Sprache für die Hoffnung erfinden soll. Aber der Imperativ lautet, eine Hoffnung für die Sprache zu erfinden, da der Sprache offenbar eine solche Hoffnung fehlt. Und weiter: »erfinde eine Richtung, eine Schimäre, um die Hoffnung fortzutragen. Und sing, denn das Ästhetische ist Freiheit.« Am Ende der Strophe scheinen wir den Schrei schon zurückgelassen zu haben, oder vielmehr ist er zum Lied geworden, und wir betreten die Sphäre des Ästhetischen. Der Schrei geht in das Lied über, das an seine Stelle tritt. An diesen Punkt sind wir über eine Reihe von Konjunktionen gelangt, die alles andere als kausal gewesen sind. Die Bewegung ist eine metonymische. Im selben Gedicht heißt es: »Metonymie schlief am Flussufer; wäre nicht der Schmutz gewesen / hätte sie das andere Ufer erreichen können« (S.   178). Das ist ein außergewöhnlicher Vers; er personifiziert die Metonymie – Figur auf Figur; nicht nur, dass die Metonymie hier offenbar allein schläft, sie kann die Verknüpfungen nicht erzeugen, die nur durch Angrenzung und Nähe möglich sind. Schließlich zeigt uns die Metonymie, wie wir vom einen zum anderen gelangen, mit dem es nicht viel zu tun zu haben scheint. In dieser poetischen Szene gibt es keine Überquerung dieses Flusses, der verschmutzt ist. Zu viel Gift verhindert einen möglicherweise überraschenden oder glücklichen Kontakt odereine Verflechtung, wo nicht das unwillentliche Sichgegenüberstehen einer verwerflichen Bindung.
    Kehren wir für einen Augenblick zur Sequenz zurück, die Darwish entwickelt, denn sobald der Schrei zum Lied wird, betreten wir eine ästhetische Region, die mit Freiheit gleichgesetzt wird. Wie ist das Ästhetische hier zu verstehen? Wir erhalten
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