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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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denken können, die zusammenleben, wobei das Diasporische die Grenzen der Identitätsbildung in diesem Zusammenleben und Leben unter den Anderen markiert und damit eine potenzielle Grundlage für einen nicht verwerflichen Binationalismus liefert. Der eine artikuliert sich im Anderen, und in diesem Sinn sprechen sie mit- und zueinander und sind außerhalb dieser Form des Sichansprechens undenkbar.
    Um zu weniger verwerflichen Formen des Binationalismus zu gelangen, müssten die jüdischen Israelis ihr Jüdischsein in Fragen der Staatsbürgerschaft und der Flüchtlingsrechte beiseitelassen; das könnte ihnen paradoxerweise am besten gelingen, wenn sie an ihre eigene Exilgeschichte denken, um daraus Grundsätze zu gewinnen, die uneingeschränkt die Rechte aller Minderheiten und Flüchtlinge schützen, sich gegen Zwangseinschränkungen und Zwangsausweisungen wenden und die kolonialistische und militärische Kontrolle der Grenzen, der natürlichen Ressourcen und der menschlichen Freiheiten beenden. Um es noch einmal zu betonen: Eine solche Extrapolation von der einen Geschichte des Leidens zur anderen setzt keine strikten Analogien voraus. Im Gegenteil scheitern hier gerade Analogisierungen; an diesem Punkt beginnen Übersetzungen und werden bestimmte verallgemeinerbare Prinzipien möglich. Zu diesen Prinzipien würde das folgende gehören: Flüchtlingsrechte sind nicht legitim, wo ihre Ausübung zu einer neuen Bevölkerung von Staatenlosen führt.
    Said scheint zwar an kulturelle und historische Quellen für eine Neufassung des Binationalismus zu denken, man muss indes festhalten, dass er sich in Richtung politischer Grundsätze und der Konzeption eines neuen Gemeinwesens bewegt. Der Binationalismus wird oft mit einer Zweistaatenlösung assoziiert, ist aber für Said die Grundlage für eine Einstaatenlösung. Binationale Projekte oder Projekte der Koexistenz auf der Basis eines kulturellen guten Willens »von beiden Seiten« bleiben aus mehreren Gründen problematisch, unter anderem aus folgendem: Sie umgehen die Struktur des Siedlerkolonialismus, die für die fortgesetzte Vertreibungspraxis verantwortlich ist. Tatsächlich läuft die künstliche Gleichheit in Kontaktgruppen, in deren Rahmen jede Seite ihrer eigenen Erfahrung Ausdruck gibt, nicht nur auf die Nichtbeachtung der Machtbeziehungen zwischen beiden Gruppen hinaus, sondern die strukturelle Annahme der Gleichheit dient hier eben dazu, die Struktur der israelischen Kolonialherrschaft zu verschleiern und damit zu schützen. 205
    Ähnliches lässt sich über Formen des Boykotts sagen, die sich nur gegen die Siedlungen oder gegen Universitäten in Siedlungen richten oder davon ausgehen, dass es nur um die Besetzung des Westjordanlandes geht und mit dessen Befreiung Boykotte unnötig würden. Die Bewegung »Global Boycott, Divestment, and Sanctions Movement« zielt auch auf die 1948 vertriebenen Palästinenser und die den israelischen Palästinensern vorenthaltenen Rechte, und zwar, weil sich das Problem der Unterdrückung der Palästinenser nicht auf die Besatzung allein beschränken lässt. Mit einer derartigen Einschränkung würden wir uns nicht nur damit einverstanden erklären, die Ansprüche von 1948 zu vergessen und das Recht auf Rückkehr zu begraben, wir würden auch ungerechte Diskriminierungen in den gegenwärtigen Grenzen Israelsakzeptieren. Man muss die strukturelle Verbindung sehen zwischen dem zionistischen Anspruch auf demografische Überlegenheit und den vielfachen Formen der Enteignung, die sich gegen in die Diaspora gezwungene Palästinenser und gegen Palästinenser richten, deren Rechte innerhalb der Grenzen beschnitten sind, die im Westjordanland unter Besatzung leben oder im Gefängnis unter freiem Himmel in Gaza oder in anderen Flüchtlingslagern in der Region leben müssen. Wenn Koexistenz den verleugneten Rahmen der Kolonialherrschaft voraussetzt, wird diese Kolonialherrschaft zur Bedingung der Koexistenz. Das bedeutet, dass es Koexistenz nur unter der Bedingung gibt, dass die Kolonialmacht sowohl unangetastet wie unsichtbar bleibt. Auch wenn diejenigen, die kulturellen Austausch und wechselseitige Mitteilung fordern, nicht vorrangig an eine solche Lösung denken, gibt sie doch die Struktur ihres Engagements vor. Dieser Weg ist falsch, nicht weil er vorpolitisch ist, sondern weil er eine nicht zu rechtfertigende Politik reproduziert, indem er vermeintliche Gleichheit auf struktureller Ungleichheit gründet. Koexistenzprojekte würden
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