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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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vielleicht besser fahren, wenn sie sich in allererster Linie die Überwindung der israelischen Kolonial- und Militärherrschaft zum Ziel setzen würden. Ich vermute, dann wären Koalitionen einfacher und wir könnten erahnen, was eine substanzielle Koexistenz überhaupt bedeuten könnte. Derzeit deutet wenig auf solche vielversprechenden Formen des Binationalismus hin, und das bringt mich zu meiner ersten Frage zurück.
    Wie also konnten Said und Darwish vor elf Jahren beide eine Zukunft ins Auge fassen? Gewiss gab es historische Gründe, aber auch andere, wenn wir bedenken, welche Form der Anrede sie verwenden. Keine Form ist vielleicht so aussagekräftig wie die, mit der sich Darwish nach dessen Tod an Said wandte. Niemand hat wohl der ungewollten Nähe, dem Aneinandergebundensein in Antagonismus und ohne Vertrag, so klaren Ausdruck verliehen wie Darwish in seiner Anrede an Said nach dessen Tod. Er hatte keine bestimmte Lösung des Problems im Blick, machte aber klar, dass diese furchtbare Verschränkung zu etwas anderem werden musste und dass das Exil so etwas wie ein Signal für die Zukunft bildet.
    In seinem Gedicht anlässlich von Saids Tod mit der Überschrift »Edward Said: Eine kontrapunktische Lektüre« schreibt Darwish ein Gespräch zwischen beiden nieder:

    »Er sagte auch: Wenn ich vor dir sterbe,
ist mein letzter Wille das Unmögliche.
Ich fragte: Ist das Unmögliche sehr fern?
Er sagte: Eine Generation weit.
Ich fragte: Und wenn ich vor dir sterbe?
Er sagte: Ich werde mein Beileid dem Berg Galiläa bringen
Und schreiben: »Das Ästhetische liegt in der
Gelassenheit.« Und nun, vergiss nicht:
Wenn ich vor dir sterbe, ist mein letzter Wille das Unmögliche.« 206
    In dieser Said zugeschriebenen Stimme bleibt Darwish mit dem »Unmöglichen« (in anderen Übersetzungen mit der »unmöglichen Aufgabe«) zurück. Das wird wiederholt und bildet eine Art Vermächtnis oder Erbe, eine ästhetische Aufforderung, die höchste Form der Übereinstimmung zu finden – Gelassenheit oder angemessene Haltung, im Original mulaa’im (Verständigung, Sammlung). Worin besteht diese Aufgabe, und wenn sie unmöglich ist, wie soll Darwish sie als seine eigene übernehmen? Die Unmöglichkeit wird im Gedicht immer wieder hervorgehoben. Es ist die Unmöglichkeit, seinen eigenen Ort und seine eigene Sprache zu finden. Hier weitere Verse dieses Gedichts, in dem Darwish Said beschreibt:

    »Auf Wind geht er und im Wind
Erkennt er sich. Der Wind kennt kein Dach,
er hat kein Heim. Wind ist der Kompass
des Nordens des Fremden.
Er sagt: Ich bin von dort, ich bin von hier,
aber ich bin weder dort noch hier.
Ich habe zwei Namen, die sich treffen und sich trennen …
Ich habe zwei Sprachen, aber ich habe schon lange vergessen,
welche die Sprache meiner Träume ist.« (S.   176 f.)
    Später dann ist es Darwish, der Said nach der Identität fragt, und Saids Stimme antwortet mit dem Problem des Exils:

    »Was ist mit der Identität?, fragte ich.
Er sagte: Sie ist Selbstverteidigung …
Identität ist Kind von Geburt, aber
Am Ende ist sie Erfindung und
Kein Erbe der Vergangenheit. Ich bin multipel …
In mir ein immer neues Außen. Und
Ich gehöre zur Frage des Opfers. Wäre ich nicht
Von dort, hätte ich mein Herz geübt,
das Reh der Metapher zu nähren …
Nimm deine Heimat mit, wo immer du hingehst, und sei
Ein Narzisst wenn es sein muss.
Das Außen ist Exil,
Exil ist die Welt innen. Und was bist du zwischen beiden?« (S.   177, Hervorh. J. B.)
    Die kontrapunktische Kraft des Gedichts umfasst zwei Stimmen, eine fragende Anrede und eine antwortende Stimme, eine Prosopopöie Saids. Die eine Stimme, offenbar die von Darwish, fragt, wie es gewesen ist, als er in sein Haus in Talbiyah in Jerusalem zurückkehrte. Hatte er Angst? Saids Stimme erwidert: »Ich konnte dem Verlust nicht ins Auge sehen. Ich stand in der Tür wie ein Bettler. Wie konnte ich um Erlaubnis bitten bei Fremden, die in meinem Bett schliefen?« Er ist in der Nachbarschaft, ja im Haus, aber immer noch im Exil; das Exil ist ihm zugleich innerlich und äußerlich oder vielmehr stellt es diese Unterscheidung selbst infrage. Es ereignet sich innerhalb der Grenzen und außerhalb der Grenzen, denn man ist auch drinnen noch draußen und draußen ist man in gewissem Sinn immer noch drinnen.
    Darwish legt Said ein Gedicht in den Mund, nährt ihn mit seinen eigenen Worten; dann aber lässt er Said sich dem Leser zuwenden und nährt auf diese Weise uns. In der Stimme Saids jedoch
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