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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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werden lässt, dass Israel, wie wir es kennen, ohne diese Unterdrückung undenkbar ist. Ohne diese Unterdrückung zeichnet sich etwas anderes ab als Israel – aber ist das denkbar? Was auch immer das ist, es ist nicht die Zerstörung des jüdischen Volkes, sondern vielmehr die Überwindung der Struktur jüdischer Souveränität und demografischer Überlegenheit. (Mit einem weiteren Argument ließe sich klar zeigen, dass das besser für die Juden und für sämtliche Einwohner des Landes wäre und damit weder zur Zerstörung des jüdischen Volkes noch des palästinensischen Volkes noch irgendeines anderen Volkes führen würde.) Was würde Israel ohne die fortgesetzte Enteignung der Palästinenser tun? Was geschieht, wenn wir diese Frage mit derjenigen verknüpfen, die Mahmoud Darwishs Gedicht »Wer bin ich, ohne Exil?« und im wiederkehrenden Vers »Was sollen wir tun ohne Exil?« stellt? Mit diesen Fragen soll auf eine Zukunft verwiesen werden, die derzeit noch ausgeschlossen wird oder nur als fortgesetzte Unterdrückung denkbar ist.
    Zur Frage, was es bedeutet, »sich an die Zukunft zu richten«, möchte ich nun zu einigen späten politischen Reflexionen von Edward Said zurückkehren. Die erste findet sich in den späten 1990er Jahren in seiner Begründung dafür, dass er nun statt einer Zweistaatenlösung eine Einstaatenlösung befürwortete. Die zweite ist in seinem Versuch enthalten, die palästinensische und die jüdische Geschichte zusammenzudenken, indem er auf den diasporischen Charakter beider unterschiedlichen Geschichten verweist. In Hinblick auf die letztgenannte Problematik beschreibt er, wie beide Identitäten auf ihrem Alteritätsbezug ruhen, auf der Zerstreuung, auf dem Leben unter jenen, zu denen man keine eindeutige Zugehörigkeit hat, oft in unfreiwilliger Nähe; das sind Lebensformen, die kulturell heterogenen Quellen entstammen. Said setzt beide Gegebenheiten nicht gleich und behauptet keine Analogie beider Geschichten, und er greift auch nicht auf den Kulturholismus Martin Bubers zurück. 200
    Said scheint nach möglichen Quellen in diesen zugleich divergierenden und konvergierenden Geschichten des Exils für das Nachdenken über den Flüchtlingsstatus zu fragen. 201 Er erinnert das jüdische Volk an seinen Status als Exilanten, Wanderer, Flüchtlinge und fordert die Juden auf, aus dieserBesonderheit allgemeinere Grundsätze zum Schutz von Minderheiten und Flüchtlingen vor Zwangsvertreibungen und Zwangseinschränkungen abzuleiten. Für Said konstituiert sich die diasporische Existenz inmitten kultureller Heterogenität und verlangt Differenz oder Pluralität als Bedingung des eigenen Daseins. Wo er diese Frage in seinem schmalen Band über Freud und das Nichteuropäische aufwirft, stützt er sich stark auf die Vorstellung von Moses als Ägypter und damit auf eine Gestalt des Juden, der aus Arabien kommt, dort lebt und selbst arabischer Jude ist. 202 Wichtig ist hier aber nicht der Moses, der sein Volk aus der Wüste führt, sondern der Wandernde – ein Motiv, auf das jüdische Philosophen, unter ihnen Franz Rosenzweig, immer wieder zurückgekommen sind, Philosophen, die sich der zionistischen Vorstellung jüdischen Lebens widersetzen und bezweifeln, ob die jüdische Politik ein politisches Territorium in Palästina anstreben sollte. Said vollzieht in der Moses-Forschung eine interessante Wende, indem er ihn als Flüchtling betrachtet und an den »diasporischen, unbehausten Charakter« jüdischen Lebens erinnert. Zudem unterstreicht er das Bündnis dieser diasporischen Version des Judentums »in unserer Zeit der massiven Bevölkerungsverschiebungen, von Flüchtlingen, Exilierten, Expatriierten und Immigranten«. 203
    Said scheint einen jüdischen Ansatz zum Binationalismus zu fordern, der auf die Unterstützung zionistischer Formen des Siedlerkolonialismus zugunsten der Unterstützung eines Gemeinwesens auf der Basis eines Verständnisses der Rechte von Flüchtlingen verzichtet. In diesem Sinn schreibt er weiter: »Die Wirksamkeit dieser These liegt, so meine ich, darin, dass sie auch in anderen und für andere belagerte Identitäten artikuliert werden kann … indem man sie als beunruhigende, behindernde säkulare Wunde behandelt«. 204 Diese Artikulation und dieses Sprechen sind Bündnisformen auf der Grundlage einer konvergierenden Diaspora, deren Formen sich dennoch unterscheiden und unterscheiden müssen. Said wirft die Frage auf, ob wir weiter diesen Gedanken zweier diasporischer Völker
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