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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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definiert werden kann / außer durch den Tod, ist kein Leben.«
    Wie also sollen wir das Unmögliche verstehen? Ist es eben das Leben, das nicht durch den Tod definiert ist, sondern durch einen Lebenshorizont? Erhält Said durch Darwish die dichterische Möglichkeit zum Weiterleben, sodass ein palästinensisches Leben möglich wird? Ist es das, was geschieht, wenn sich Darwish auch hier noch in einer unmöglichen Gegenwart auf Said bezieht, in seiner Elegie »Er sagt: wir werden leben«? Das ist keine Erzählungvon Vergangenem, kein optimistisches Raunen – »er sagte, wir werden leben!« Nein, Said, heißt es, sagt das jetzt, in dieser Gegenwart, und er sagt es für alle Palästinenser, für ein offenes »Wir«, in einer zeitübergreifenden Äußerung. Saids Leben ist so mit dem palästinensischen Leben verknüpft, und Pluralität entsteht ohne Mauern und Gräben.
    Und ein solches Leben wird ermöglicht durch Saids Worte, zumindest in der Welt dieses Gedichtes. Natürlich können niemandes Worte Leben möglich machen, aber Saids Worte, in der Gegenwart, in der er selbst nicht mehr lebt, ermöglichen vielleicht sein Fortleben in der Stimme. Said wird hier unsterblich gemacht, und implizit ist hier der Gedanke im Spiel, dass die Palästinenser aufhören werden zu leben, wenn er aufhört zu sprechen. Paradoxerweise sind es Darwishs Worte, in denen er lebt, auch wenn es Said ist, der spricht, in der ersten Person von nirgendwo und ohne klares Bewusstsein der Gegenwart. Etwas ist für die Sprache erfunden worden: Es ist Saids Sprechen in einer Zeit, in der er nicht mehr sprechen kann und das kollektive Leben seines Volkes über eine Zeit der Katastrophe hinaus in eine andere Zeit sichert, in dieses Gedicht – eben das ist die Erfindung einer Hoffnung für die Sprache. Hier werden vielleicht Wörter und Ansprüche mit der performativen Kraft der Feststellung und Vorhersage überliefert, dass »wir leben werden«. Es ist eine Deklaration der Hoffnung, aber auch der unauslotbaren Zuversicht angesichts der Bedrohungen des Lebens, der schleichenden, aber systematischen Erosion des alltäglichen Lebens unter der Besatzung. Maßlose Zuversicht und Gewissheit findet sich bereits, wo er – Said, seine Stimme – sagt: »Lass uns also Meister der Worte sein / die ihre Leser unsterblich machen.«
    Sicher können wir dann die Frage stellen, ob Darwish mit seinen Worten Said nicht unsterblich macht, denn hier ist er, in einer unheimlichen Gegenwart, immer noch sprechend – eine unmögliche Aufgabe, aber eine, der sich Darwish stellen muss. Was Darwish ihn sagen lässt, ist aber gerade »unsterbliches Leben« – für die Leser, aber auch für jeden Palästinenser, drinnen, draußen oder drinnen und draußen, der Darwish oder Said liest, um einen Weg zu finden, das Unmögliche zu leben, das heißt jenseits der definierenden Todesdrohung zu leben, wobei der Tod weniger ein existenzielles Problem ist als vielmehr die vergiftete Luft des Alltäglichen, der unvermittelte Übergriff, die fortgesetzte Blockade, die absehbare Zerstörung, die andauernde Vertreibung und die andauernde Einschließung. Durch das Gedicht also gibt Darwish Said Leben, der seinerseits allen Palästinensern Leben gibt. Und diese unbeschreibliche und unmögliche Bejahung bringtdas Gedicht zu seinem Ende. Die letzten Verse sind ein Lebewohl, das wir als Lebewohl an Said verstehen. Darwish beschränkt sich auf diese beiden schlichten Zeilen:

    »Lebwohl,
Lebwohl Poesie des Schmerzes.«
    Der Gruß an Said lässt die Poesie des Schmerzes hinter sich, denn in dieser kontrapunktischen Ode wird der Schrei in Lied überführt und das Lied ist Said gewidmet, der Darwish, aber auch den Lesern hinterlassen hat, das Unmögliche zu wollen. So wird das Gesicht selbst zur Ausübung dieses letzten Willens und zur Erfüllung dieser Ermahnung. Will man Saids letzten Willen ehren, wird die Poesie des Schmerzes überwunden durch die Dichtung, die das Unmögliche will. Wessen Wille ist das? Er ist letztlich weder ausschließlich der von Darwish noch der von Said, sondern der des palästinensischen Volkes, das zum Leser des Gedichtes geworden ist und durch seine ästhetische Form in das unmögliche Leben und die unmögliche Freiheit eintritt. Und diese Form ist die der Anrede; sie mahnt und fordert, sie fordert den Leser zum Handeln auf, zum Sprechen, zum Erfinden und zum Wollen des Unmöglichen, das nicht einfach eine andere Zukunft als die permanente Katastrophe ist, sondern der
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