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Der Knochendieb

Der Knochendieb

Titel: Der Knochendieb
Autoren: Thomas O'Callaghan
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1. KAPITEL
    Der Herbsttag war frisch und ließ einen harten Winter befürchten. Feuchtigkeit hing in der Luft. Der Wetterbericht hatte Regen prophezeit.
    Ein paar lachende Mädchen hatten den Elementen getrotzt und waren in den Park gekommen, um mich spielen zu sehen. Wie eine Cheerleader-Truppe säumten sie die Seiten des Spielfelds.
    »Mach sie fertig, Colm!«, riefen sie, als ich meinen Platz an der Angriffslinie einnahm.
    Das Spiel begann. Der Ball wurde geschlagen. Ich lief los und verfolgte, wie das Schweinsleder auf mich zueierte. Gerade als ich den Ball fangen wollte, sprang mir ein Golden Retriever in den Weg, der sich von der Leine losgerissen hatte und unbedingt mitspielen wollte.
    Der Zusammenprall mit dem Hund ließ mich stürzen.
    »Mein Gott! Briosca hat ihn umgeworfen!«
    »Lasst ihm Platz zum Atmen!«
    »Ruft einen Krankenwagen!«
     
    »Wach auf! Wach auf!«
    Ich öffnete die Augen und sah mein schäbiges kleines Zimmer vor mir. Der Traum verpuffte und machte dem Albtraum des Wachseins Platz.
    Mutters Augen musterten mich grimmig und unerbittlich. Fast sehnte ich mich nach dem Hund, der mich angefallen
hatte, und wäre am liebsten wieder in den Traum zurückgekehrt, wo die Gefahren berechenbar waren.
    »Steh auf«, sagte sie. »Dein Vater braucht dich.«
    Mutter war stolz darauf, eine gehorsame Ehefrau zu sein, und in dieser Funktion erfüllte sie ihre Pflicht, Vaters Wünschen zu entsprechen, wie ausgefallen sie auch sein mochten. Sie hatte die Anweisung, meine Schwester und mich zu wecken und uns in den zweiten Keller zu bringen, wo mein Vater seine Vögel häutete.
    Als ich mich aufsetzte, fröstelte ich. An der Zimmertemperatur lag es nicht. Mein Körper wappnete sich gegen das nahende Grauen.
    Meine Schwester Rebecca kam ins Zimmer gerannt, die Augen noch voller Schlaf.
    »Colm, Colm, schon wieder?«, wimmerte sie.
    Mutter kehrte zurück und führte Rebecca und mich nach unten. Wir wurden durch den Keller bugsiert, wo auf einer fahrbaren Krankenliege ein ausgenommener Kanadareiher, ein Silberreiher und ein Wanderfalke darauf warteten, gehäutet, ausgestopft und auf einen Ständer montiert zu werden.
    Unten im zweiten Keller wurden wir Vater vorgeführt. Er saß an dem blutgetränkten Arbeitstisch, gebückt auf seinem wackeligen Hocker, wo er sich krümmen und dann hochschnellen konnte wie eine Giftschlange. Tief in seinem pockennarbigen Gesicht, das durch die Jahre verwittert und von unzähligen Exzessen verwüstet war, lagen die Augen. Augen, die leblos wirkten wie bei einem Fisch an der Angel. Die Glut am Ende seiner Zigarette kämpfte gegen das Erlöschen an und lechzte nach Sauerstoff, während sie die Ausdünstungen seines alkoholgetränkten Atems einsaugen musste.

    Mutter, die immer aussah, als rechnete sie mit dem Schlimmsten, kramte in der Tasche ihrer schmutzigen Schürze und zog ein Fläschchen hervor. Sie schraubte es auf und schüttelte zwei gelbe Tabletten heraus.
    »Zeit für deine Chemo«, erklärte sie.
    »Zur Hölle mit der Chemo! Ich will mit Haaren an den Eiern begraben werden!«, bellte Vater und schlug Mutter die Pillen aus der Hand.
    »Ach, Bugler«, seufzte Mutter.
    »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Evelyn. Die Kinder müssen dieses Handwerk lernen. Setzt euch an den Tisch, Kinder. Und passt genau auf, was ich mache.«
    Ich sah meine Schwester an, die sich mir gegenüber an den Tisch gesetzt hatte. Mutter und Vater taten so, als wären wir zum ersten Mal an diesen schrecklichen Ort gerufen worden. Aber nein. Wir wohnten dieser Höllenqual jede Nacht bei.
    Es war, als hätte Vater meine Gedanken gelesen, denn er grinste mich höhnisch an und holte einen großen Vogel aus einem hölzernen Regal. »Das hier ist ein Fasan aus Lancaster County, Pennsylvania«, knurrte er. »Mit einer Zwölf-Kaliber-Mossberg hab ich den Knaben runtergeholt. Jetzt pass auf: Ich lege den Vogel mit der Brust nach oben und gespreizten Beinen auf den Arbeitstisch. Dann stopfe ich ihm Watte in den Schnabel, um das Blut aufzufangen.«
    Ich schloss die Augen und kämpfte gegen den Brechreiz an.
    »Pass auf!«, fauchte Mutter und versetzte mir einen Klaps auf den Hinterkopf.
    Vaters zornige Augen fanden die meinen und ruhten eine halbe Ewigkeit auf ihnen. Schließlich wandte er den
Blick ab, griff nach einer Lanzette und setzte seine Belehrungen fort. »Mit dieser Lanzette schneide ich den Fasan vom Hals bis zum Arschloch auf. Du ritzt nur die Haut auf. Bleib weg vom Fleisch. Siehst du, wie ich die
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