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Der Knochendieb

Der Knochendieb

Titel: Der Knochendieb
Autoren: Thomas O'Callaghan
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Anwesenheit verkündenden Spatzen waren geflohen und suchten Schutz vor dem Regen, der gleich fallen würde. Das Zirpen einer einsamen Grille war das einzige Geräusch.
    Police Lieutenant John W. Driscoll streckte mit schmerzerfüllter Miene die Hand aus und ließ sie auf die raue Granitfläche des Grabsteins seiner Tochter fallen. Tränen traten ihm in die Augen.
    »Guten Morgen, meine Kleine«, hauchte er und betrachtete den Grabspruch auf dem Stein: »Unser Sonnenschein« - Worte, die ihm aus dem Herzen sprachen.
    Er sah das Lächeln seiner Tochter vor sich und erwiderte es. »Daddy ist da«, flüsterte er.
    Zu Lebzeiten hatte sie immer gewusst, wie sie ihn aufheitern konnte, wenn alles andere fehlgeschlagen war. Und im Gegenzug hatte er dafür gesorgt, dass sie nie mit Erinnerungen aus seiner eigenen Kindheit belastet wurde, die er unter einem alkoholsüchtigen Vater und einer hoffnungslos deprimierten Mutter durchlitten hatte. Nein, Nicole hatte sich nie so gefühlt wie er: ausgesetzt, wie ein Waisenkind.
    Sechs Jahre war der Unfall nun her, der seine Tochter das Leben gekostet und seine Frau an den Rand des Todes gebracht hatte. In diesen sechs Jahren hatte er das Grab seiner Tochter mit gewissenhafter Regelmäßigkeit besucht.
    »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, murmelte
er, fasste in die Jackentasche und nahm eine Spieluhr aus ägyptischem Alabaster heraus. Er stellte sie auf den kalten Stein und hob den Deckel. Die ersten Töne von Vivaldis D-Dur-Konzert klangen über den Friedhof.
    »Die ist für deine Sammlung«, sagte er.
    Sein Mobiltelefon klingelte. »Driscoll hier. Wann? Wo? Ich bin in zwanzig Minuten da.«
    Er kniete nieder und lehnte die Spieluhr an den Grabstein.
    »Sie brauchen mich«, seufzte er und drückte einen Kuss auf den Stein.

4. KAPITEL
    Driscoll steuerte den regennassen Streifenwagen die kurvenreiche Straße entlang, die sich durch den Prospect Park wand, und parkte ihn vor dem gelb-schwarz gestreiften Polizeiabsperrband, das den Leichenfundort abriegelte. Er hasste Regen. Seiner Frau Colette hatte er versprochen, dass sie eines Tages, wenn er seine Dienstmarke abgelegt hatte und Rente bezog, auf eine Insel ohne Wolken ziehen und nie mehr von dort weggehen würden. Der Traum lag in weiter Ferne.
    Er strich sich die sandfarbenen Haare zurück und ging auf das verlassene Bootshaus zu, in dem die Frauenleiche gefunden worden war. Die verschreckte Miene des Jungpolizisten, der ihn begrüßte, ließ ihn zusammenzucken. Die Hosenbeine des Grünschnabels waren unten voller Flecken, und es roch nach Erbrochenem.
    »Waren Sie als Erster hier?«, wollte Driscoll wissen.
    »Ja, Sir.«

    »Ihr erster Mord?«
    Der Officer nickte. »Ich komme mir vor wie in einem Albtraum, der im Schlachthof spielt.«
    Im Bootshaus hing ein schwindlig machender Gestank nach frischem Blut. Der süßliche Geruch stieg Driscoll in die Nebenhöhlen. Er ging auf Larry Pearsol zu, den leitenden Leichenbeschauer der Stadt, der sich über das beugte, was vom Opfer übrig war. Jasper Eliot, Pearsols Assistent, fotografierte die Leiche.
    »Was haben wir, Larry?«, fragte Driscoll.
    »Üble Sache. Sie wurde ausgenommen wie ein Fisch. Ich finde keinen einzigen Knochen in ihr, und Kopf, Hände und Füße fehlen.«
    Die entbeinte Leiche lag ausgebreitet auf dem morschen Holzboden. Das knochenlose Fleisch erinnerte entfernt an eine menschliche Gestalt, während die Brüste verrieten, dass es eine Frau war.
    Der Anblick der Leiche widerte Driscoll an. Dieses Verbrechen war extrem abstoßend, barbarisch. Was trieb jemanden zu einer solchen Gräueltat? Und warum nahm er Kopf, Hände und Füße mit? Was sollte das?
    Während er auf die verstümmelte Tote hinabblickte, musste er an den zerquetschten Körper seiner Mutter denken, nachdem die New Yorker Feuerwehr sie ohne Gliedmaßen aus den stählernen Fängen eines Pendlerzugs der Long Island Railroad geschnitten hatte. Sie hatte im Sommer 1969 ihrem Leben ein Ende gesetzt, indem sie sich vor den einfahrenden Zug warf. Driscoll war damals acht Jahre alt gewesen. Er hatte seine Mutter zum Bahnhof begleitet, wo sie ihn anwies, am Fuß der Treppe zu warten, da sie den Zug um 10 Uhr 39 von der Penn Station abpassen müsse. Kaum war der Zug quietschend über
ihm in den Bahnhof gefahren, ergoss sich ein Schwall, den er für Kirschsaft hielt, nach unten und besprühte den Asphalt und die Windschutzscheiben vorbeifahrender Autos. Eine Frau war schreiend aus ihrem Wagen gesprungen. »Mein
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