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Der Knochendieb

Der Knochendieb

Titel: Der Knochendieb
Autoren: Thomas O'Callaghan
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und einem Elektrokardiographen mit extrahoher Auflösung. Colettes regloser Körper war mit mehreren bernsteinfarbenen Bildschirmen verbunden. Ihr Kreislauf, ihre Atmung und ihr Herzschlag wurden von zahlreichen Sensoren unablässig kontrolliert. Rund um die Uhr von einer examinierten Krankenschwester überwacht, lag Colette reglos und wie in einer Art Wartestellung im Koma.
    Es hatte Driscoll einige Mühe gekostet, die häusliche Pflege seiner Frau zu organisieren. Er hatte seine ganze Autorität in die Waagschale werfen und hochgestellte Freunde um Gefallen bitten müssen, um die Klinikverwaltung zur Duldung eines so unorthodoxen Arrangements zu bewegen. Doch er wollte seine Colette zu Hause haben. Die Kosten dafür hatten seine schlimmsten Befürchtungen überstiegen. Er hatte tief in seine Pensionsrücklagen greifen müssen, um das auszugleichen, was nicht vom Blauen Kreuz getragen wurde. Doch in seinen Augen war es das wert.
    Der Lieutenant verließ die Pier und schlug den Nachhauseweg ein. An der Strandseite der Pier lockte Sullivans Taverne. Sie war zu Driscolls Stammkneipe geworden, und die Barkeeper Jim und Christopher halfen ihm dabei, die Dämonen der Verzweiflung niederzuringen.
    Aber nicht heute Abend.
    In der Tasche seines Burberry-Mantels steckte ein Tiegel
natürlicher Feuchtigkeitspflege, eine Hautcreme, die ihm sein Kollege Detective Cedric Thomlinson aus Trinidad mitgebracht hatte. Der Balsam aus reinen Frucht ölen wurde von karibischen Frauen gern verwendet, um die Haut weich und geschmeidig zu halten, und Driscoll wollte, dass die Schwester ihn auf den reglosen Leib seiner Frau auftrug.
    Der Tiegel beulte ihm den Mantel aus. Ehe er Colette kennen gelernt hatte, hatte Driscoll Polyester-Anzüge getragen, die er an Washingtons Geburtstag, dem Tag der großen Ausverkäufe, bei NBO erstand. Er begegnete dem Patriotismus mit Genügsamkeit. Doch Colette hatte ihn mit hochwertiger englischer Schneiderware bekannt gemacht. Sie hielt es für besser, einen edlen Anzug zu besitzen, der gut geschnitten und verarbeitet und den Strapazen eines anstrengenden Lebens gewachsen war, als fünf mittelmäßige, die trist, langweilig und schlampig genäht waren. Ihre Logik war bestechend. Im Handumdrehen hatte sie seine Garderobe der Heilsarmee übergeben und ihm beim alljährlichen Schlussverkauf von Barney’s drei luxuriöse Anzüge gekauft, dazu fünf Dior-Hemden aus einer Geschäftsauflösung, zwei Ferragamo-Krawatten auf einen Geschenkgutschein von Bloomingdale’s, zwei Paar Kenneth-Cole-Schuhe bei einer Sonderaktion, wo es nur an einem Tag zwei Paare zum Preis von einem gab, und einen Flakon ihres Lieblings-Herrendufts Halston 14.
    Für Driscoll hatte sich das feine englische Tuch zu einer Art Sucht entwickelt - teure Wollfasern und herrliche Seidenstoffe. Seine Garderobe wurde zum einzigen Luxus, den er sich gestattete. Beim Kauf einer Jacke von Bill Blass oder einer Hose von Ralph Lauren spürte er Colettes Zustimmung. Nach wie vor kleidete er sich ihretwegen
gut, nicht wegen der einhelligen Anerkennung als New Yorks bestgekleideter Detective und auch nicht wegen des Spitznamens »John Dandy«, den ihm seine schicken Anzüge eingebracht hatten.
    Driscoll bewegte seine knapp Einsneunzig so energisch durch die Welt, dass er einschüchternd wirkte. Er ging mit stolzem Schritt, so ähnlich wie Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags. Die Frauen im Revier fanden ihn unwiderstehlich, doch Driscoll war immun gegen weibliche Bewunderung.
    Ein zweites auffälliges Merkmal von Driscolls Äußerem waren seine ausdrucksvollen Lippen - sie wirkten freundlich und großzügig und passten eigentlich nicht zu seinem keltischen Kinn, sondern hatten einen eher mediterranen, ja fast römischen Einschlag. Sie reagierten auf seine Gemütszustände, wurden weicher, wenn er zufrieden war, zogen sich bei Stress zusammen und zitterten, wenn er Angst hatte. Seine Lippen sprachen eine nonverbale Sprache. Colette hatte gelernt, in seinem Herzen zu lesen und seine Gedanken zu erfassen, indem sie die Erschütterungen seiner Lippen verfolgte. Seiner Lippen wegen hatte Driscoll kein solches Pokerface, wie es in seiner Branche von Vorteil gewesen wäre.
    Nun ging er mit zusammengekniffenem Mund den menschenleeren Strandweg entlang, zu seinem Haus und zu Colette. Er trat auf die Veranda, steckte den Schlüssel ins Schloss und machte die Tür auf. Ölgemälde, die einmal gelebt und geatmet zu haben schienen, hießen ihn willkommen. Auch sie hatten
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