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Am Montag flog der Rabbi ab

Am Montag flog der Rabbi ab

Titel: Am Montag flog der Rabbi ab
Autoren: Harry Kemelman
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wollte seine Predigten in Buchform herausgeben; ein weiteres Buch sollte aus seinen Notizen entstehen; und noch eins über jüdische Feiertage. Er war ganz erfüllt von diesen Plänen, die er jetzt, da er die nötige Zeit hatte, endlich alle ausführen konnte. Die Schreibmaschine wurde überholt, er deckte sich mit Papier, Kohlepapier, einem Reservefarbband und Tipp-Ex ein. Und genau drei Tage ging er gleich nach dem Frühstück in sein Arbeitszimmer und blieb dort zwei Stunden. Danach beschloss er, einen Spaziergang zu machen. Ich ging in sein Zimmer, nicht um zu spionieren selbstverständlich, sondern nur zum Aufräumen und Staubwischen. Und was finde ich? Ein paar Blatt Papier, darauf hatte er völlig unsinnige Sätze getippt. Weiter nichts.»
    «Na ja, manchmal geht einem der Anfang schwer von der Hand.»
    «Er hat ja nie angefangen, Dan», sagte sie leise.
    «Ich glaube, alle Leute, die sich zur Ruhe setzen, brauchen etwas Zeit, um sich an den Zustand zu gewöhnen.»
    «Aber für einen Rabbi ist’s viel schlimmer», beharrte sie. «Es gibt so vieles, was er nicht tun darf. Er hat ein gewisses Image in der Gemeinde, dem er gerecht werden muss. Wenn sich andere Leute zur Ruhe setzen, können sie jeden Tag Golf spielen und jeden Abend Karten. Sie können ins Kino gehen oder Kriminalromane lesen. Von einem Rabbi jedoch nimmt man an, dass er auf einem höheren Niveau steht; zumindest denkt er das. Gelegentlich kann er ruhig Golf spielen, sieht man ihn aber täglich auf dem Platz, beginnen sich die Leute zu wundern. Wir sind gern zur Bibliothek gegangen; sie lag etwa zwei Kilometer von unserem Haus entfernt. Das gab uns Gelegenheit zu einem Spaziergang, und wir hatten zudem irgendein Ziel. Und dort wanderten wir dann die Regale entlang, betrachteten die Bücher, und ab und zu deutete er auf einen Kriminalroman und bat mich, ihn auf meine Lesekarte zu nehmen. Der Arme wollte sich vor der Bibliothekarin nicht die Blöße geben, dass er etwas Leichtes las. Er suchte sich Bücher über Soziologie und vergleichende Religionswissenschaft heraus, so in der Preislage, und ließ sie auf seiner Lesekarte eintragen. Gelesen aber hat er die Bücher, die ich auf seine Veranlassung entliehen habe.»
    Ihr Bruder lachte. «Was macht es dir aus, was er liest? Er war wenigstens beschäftigt, oder?»
    «O nein, dagegen hatte ich auch nichts», sagte sie. «Ich hab’s nur erwähnt, um dir zu zeigen, dass es bei einem Rabbi was anderes ist. Außerdem konnte er nicht den ganzen Tag lesen. Daraus hat er sich noch nie viel gemacht. Es handelt sich nur darum, dass er mir von früh bis spät auf Schritt und Tritt folgte, weil er nichts zu tun hatte. Hab ich die Betten gemacht, stand er daneben. Kaum war ich in der Küche, schon erschien er und bot seine Hilfe an, holte mir alles Mögliche, was ich gar nicht wollte. Eine Frau hat mit der Zeit ihren eigenen Arbeitsrhythmus, ihre bestimmte Routine. Wenn sie sich angewöhnt hat, zum Schrank rüberzugehen und den Pfeffer zu holen, nützt es ihr gar nichts, dass er schon griffbereit neben ihr steht. Im Gegenteil, es bringt sie aus dem Gleis. Ich sag dir eins – wenn sich dieser Job nicht geboten hätte, wäre ich verrückt geworden.»
    «Aber er hat sich geboten», sagte Dan.
    «Ein Segen. Es ist wirklich angenehm hier. Und Hugo ist sehr beliebt bei der Gemeinde. Der Vorstand kann sich gar nicht genug tun, um ihm zu zeigen, wie sie seine Arbeit zu schätzen wissen. Hugo ist schrecklich gern hier, viel lieber als in seiner alten Gemeinde, wo er immerhin dreißig Jahre war. Seit seiner Ankunft hat es keinen Streit mit dem Vorstand gegeben; alles ist rundherum erfreulich. Von dem Gesichtspunkt aus ist es der leichteste Posten, den er je gehabt hat. Und er ist ja schließlich kein alter Mann. Ich meine, ein Rabbi ist mit fünfundsechzig eigentlich auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit. Letzten Endes hebt er ja keine Gräben aus. Und dann hat er all seine alten Predigten, die er halten kann und die den Leuten hier natürlich neu sind.»
    «Aber andererseits ist es ja nur vorübergehend», stellte Stedman fest.
    «Na ja, das braucht’s nicht zu sein. Wenn Hugo nicht so unschlüssig und total unpraktisch wäre, könnte er hier bleiben, so lange er möchte. Ich bin sicher, dass er mit dir darüber sprechen wird. Ich hab mit ihm geredet und ihn meiner Meinung nach beinahe überzeugt.»
    Sie betätigte den Blinker und bog um die Ecke. «Das ist unsere Straße.» Sowie sie den Wagen an den Randstein
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