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Ulysses Moore – Die steinernen Wächter

Ulysses Moore – Die steinernen Wächter

Titel: Ulysses Moore – Die steinernen Wächter
Autoren: Pierdomenico Baccalario
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Schon seit vielen Jahren waren in den Gewässern vor Kilmore Cove keine Wale mehr gesichtet worden. Dennoch hatte man den Namen der größten Bucht des Ortes wie zur Erinnerung an vergangene Zeiten un verändert gelassen: Whales Call, der Ruf der Wale. Sie lag östlich vom Hafen und besaß einen langen Sandstrand, der bis zu den Klippen von Salton Cliff reichte. Auf deren höchstem Punkt thronte die Villa Argo. Am Fuße der Klippen schlug das Meer tosend gegen die Felsen und schleuderte ihnen schäumende Gischt entgegen.
    Es war Abend geworden und wie immer an den ungeraden Tagen des Monats joggte Gwendaline Mainoff, die Friseurin von Kilmore Cove, am Strand entlang, um in Form zu bleiben. Gedankenversunken lauschte sie dabei der klassischen Musik, die den Kopfhörern ihres alten Walkmans entströmte. Die Sonne war schon vor über einer halben Stunde untergegangen, doch die Dämmerung hielt an, als solle ihr ungewisses Licht all jenen helfen, die sich rasch einen letzten Überblick über die Ereignisse des Tages verschaffen wollten. Die Luft war frisch und klar, der Himmel wolkenlos.
    Die massige Gestalt, die reglos im Sand lag, fiel Gwendaline zuerst gar nicht auf und sie lief daran vorbei.
    Erst nachdem sie die Klippen erreicht, den ersten Felsen berührt und wieder kehrtgemacht hatte, um nach Hause zurückzujoggen, blieb Gwendaline bei der dunklen Masse stehen, runzelte die Stirn und nahm die Kopfhörer ab.
    »Was ist das denn?«, rief sie. »Ein gestrandeter Wal?« Sie ging über den feuchten Sand einige Schritte darauf zu und schaltete dabei den Walkman aus. Als sie erkannte, was da vor ihr lag, erschrak sie.
    Es war ein Mann, mit ausgestreckten Armen und Beinen.
    Er sah aus, als sei er tot und von der Strömung angespült worden.
    Hilfe suchend schaute Gwendaline sich um, konnte aber niemanden entdecken. Um sie herum wurde es immer dunkler. Kilmore Cove machte sich für die Nacht bereit. Die Leute, die vor dem einzigen noch geöffneten Lokal des Ortes gestanden hatten, waren inzwischen nach Hause gegangen. In vielen Fenstern brannte Licht und bald würden auch die Straßenlaternen eingeschaltet werden.
    Gwendaline zögerte noch einige Minuten, bevor sie sich entschließen konnte, näher an den reglosen Mann heranzugehen.
    Plötzlich geschahen zwei Dinge: Zum einen schaltete sich Leonard Minaxos Leuchtturm auf der anderen Seite der Bucht mit einem dumpfen Rumpeln ein und verbreitete ein weißliches Licht.
    Dann begann der Mann, der vor ihr im Sand lag, zu husten.
    »Der ist ja gar nicht tot«, murmelte die Friseurin. Sie sah zum Leuchtturm hinüber und überwand die letzten Meter, die sie von dem Mann trennten.
    Er hustete ein zweites Mal und bewegte Arme und Beine, als glaubte er, noch im Meer zu sein und weiterschwimmen zu müssen.
    »Sind Sie in Ordnung?«, fragte Gwendaline ihn. Der Mann war klatschnass und von Algen bedeckt. Immer noch trat er mit den Füßen, als wolle er durch den Sand schwimmen. »Hallo, hören Sie mich?«, fragte Gwendaline und kniete sich hin.
    Endlich hörte der Mann auf zu strampeln. Er musste wieder husten und drehte sich dabei schwerfällig zu ihr um. Gwendaline wusste sofort, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Ihr fiel die lange Narbe am Hals auf, die unter seinem Kragen verschwand.
    »Brauchen Sie Hilfe?«, erkundigte sie sich besorgt und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
    Der Mann nickte schwach und stöhnte: »Ich glaube ... ja ... bitte ...«
    »Können Sie gehen? Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Aufstehen.« Sie versuchte ihn an seiner nassen Jeanslatzhose hochzuziehen.
    Er ließ alles mit sich geschehen, ohne auch nur die Augen zu öffnen. Irgendwie gelang es Gwendaline, ihn aufzurichten, und schließlich stand er, so eng an sie gelehnt, dass es aussah, als würden sie einander umarmen.
    »Kommen Sie, hier geht es lang«, sagte die Friseurin und musste all ihre Kraft aufbieten, um ihn zu stützen.
    »Ja«, murmelte der Mann, der kaum sein Gleichgewicht halten konnte.
    Als er schließlich die Augen öffnete, sah er zuerst die Lichter von Kilmore Cove. Dann drehte er sich nach der Person um, die ihm zu Hilfe gekommen war. Kaum hatte er sie erblickt, kniff er die Augen sofort wieder zu.
    Eine Meerjungfrau, dachte Manfred. Ich bin von einer Meerjungfrau gerettet worden.



Jason wartete, bis das Auto seines Vaters hinter der Ecke verschwunden war. Dann drehte er sich schnell zu seiner Schwester um und sagte: »Ich muss dorthin. Und dafür brauche ich deine
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