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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit
Autoren: Jorge Molist
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Nebenzimmer hineinschauen konnte. Da wurde ihm klar, dass seine Liebesgeschichte, die er mit Anna in diesem Zimmer erlebt hatte, nicht so geheim war, wie er geglaubt hatte. Aber dies war nicht der richtige Moment, es dem Buchhändler vorzuwerfen.
    Offenkundig gefiel Anna die Gestalt des Buches. Sie atmete seinen Duft ein und streichelte es. Aber als er die betrübte Miene bemerkte, die sie machte, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte, steigerte sich seine Unruhe zum Schrecken. Schließlich stand sie auf und floh.
    Er rannte hinterher, um sie zurückzuhalten, doch Antonello vertrat ihm den Weg.
    »Lass sie«, sagte Antonello. »Mach es nicht noch schlimmer.«
    Joan wehrte sich heftig, während er sah, wie sich Anna im Regen und Hagel entfernte.
    »Wie kann es denn noch schlimmer sein?«, fragte er trostlos.
    Begriff Anna denn nicht, welch elendes Leben sie und ihr Kind erwartete? Er konnte ihr so viel geben! Zusammen wären sie so glücklich geworden! Wie konnte sie nur so verblendet, so eigensinnig sein?
    Niedergeschlagen stellte er fest, dass seine ganze Buße, seine ganze Arbeit, all seine Gebete umsonst gewesen waren.

122
    A nna rannte weiter, ohne sich darum zu kümmern, dass sie nass wurde, bis die Buchhandlung weit genug hinter ihr lag. Sie keuchte. Ihre Haube war schon durchgeweicht, und das Wasser rann ihr übers Gesicht. Diese Geschichte, dieses Buch setzten ihr heftig zu. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Es hatte sie große Mühe gekostet, zu einem Pakt mit ihrem Gewissen zu gelangen, durch Buße ihre Schuld auszugleichen. Der größte Teil dieser Buße bestand darin, sich von Joan und dem Leben, das er ihr nun bieten konnte, entfernt zu halten. Jetzt wollte sie fliehen, obwohl etwas an ihr zog. Eine mächtige Kraft drängte sie, die Lektüre fortzusetzen.
    Sie irrte im eiskalten Regen umher. Sie zitterte vor Kälte. Doch je weiter sie lief, desto näher führten sie ihre Schritte wieder zur Buchhandlung.
    Antonello stand an der Tür. Als er sie zurückkommen sah, rief er María, seine Frau, und sagte zu Joan, er solle sich verstecken.
    »Kommt herein, um Gottes willen! Ihr holt Euch eine Lungenentzündung«, rief er, als er sah, dass sie durchnässt war und vor Kälte zitterte.
    »Ich will dieses Buch lesen.«
    »Zuerst kommt Ihr mit und zieht Euch um«, sagte María in mütterlichem Ton. »Sonst werdet Ihr noch krank.«
    »Ganz gleich, ich will dieses Buch lesen«, drängte sie.
    »Auf keinen Fall. Wasser schadet den Büchern«, widersprach Antonello nachdrücklich. »Wenn Ihr es lesen wollt, müsst Ihr mit María in den ersten Stock hochgehen und Euch umziehen.«
    Fügsam ließ sie sich von der Buchhändlerin in den ersten Stock mitnehmen. Sobald sie sich abgetrocknet hatte, setzte María sie ans Feuer und gab ihr eine heiße Brühe. Allmählich erwärmte sich ihr Körper wieder, und ihr Geist beruhigte sich.
    In trockenen Sachen und mit einer weiteren Tasse Brühe kehrte Anna in die trügerische Intimität des kleinen Leseraums zurück. Bevor Antonello sie alleine ließ, bot er ihr eine Öllampe an, denn das Unwetter trübte das durchs Fenster einfallende Licht. Anna nahm all ihren Mut zusammen, um weiterzulesen.
    Sie begann bei der ersten Zeile und hielt an der Stelle inne, an der sie in Tränen ausgebrochen war. Sie sammelte Kraft, um weiterzulesen.
    Nun schilderte der Text ihre Begegnungen am Brunnen, ihre Briefchen, ihre heimlichen Liebkosungen, dieses unschuldige Glück, dass sie sich jeden Tag sahen, selbst wenn es nur ein paar Augenblicke dauerte.
    Anna spürte, wie ihr wieder Tränen in die Augen traten, nun aber waren sie zärtlich und wehmütig. »Was für eine schöne Zeit das war!«, sagte sie sich.
    Die Geschichte überwältigte sie, ohne dass sie sich widersetzen konnte. Sie ging mit dem Angriff Agricans weiter, »des bösen Freiers Angelicas«, der danach von Roland besiegt wurde. Ihr war sofort klar, dass er Felip darstellte. Nun folgten der Kampf Rolands, um sie zu beschützen, und die tragische Flucht der Familie Angelicas, die von mächtigen und ungerechten Feinden bedrängt wurde.
    … es zerriss Rolands Herz, als seine Liebste fortging. Er wusste nicht, wo er sie suchen sollte, und glaubte, dass er sie nie wiedersehen würde …
    Danach schilderte sie die erfolglosen Versuche Rolands, den Aufenthaltsort seiner Dame herauszufinden, und schließlich berichtete sie von der Freude, dass er sie durch das Buch der Liebe und Rittertaten des
Verliebten
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