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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit
Autoren: Jorge Molist
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warnen.«
    »Sind das böse Leute?«
    Ramón blickte ihn zärtlich an, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Wenn du ein wildes Tier im Wald auf dich zukommen siehst, darfst du nicht warten, bis du weißt, ob es ein Hund oder ein Wolf ist. Mach dich bereit, davonzulaufen oder zu kämpfen. Los!«
    Er rannte auf dem steilen Pfad nach unten, und Joan lief ihm hinterher, so schnell er konnte. Doch bevor sie zum Dorf kamen, hörten sie stürmisches Glockengeläut.
    »Der Eremit hat sie auch gesehen!«, rief der Vater.
    Auf dem Berggipfel, wo man eine überwältigende Aussicht auf das Meer hatte, erhob sich ein Wachturm, der gleichzeitig der Verteidigung diente und an dessen Fuß eine dem Schutzpatron des Dorfes, Sankt Sebastian, geweihte Kapelle stand. Dort lebte ein Eremit, der nicht nur Gottesdienste zelebrierte, sondern auch den Horizont überwachte, um die Dorfbewohner vor drohenden Piratenüberfällen zu warnen.
    Nie zuvor hatte der Junge das Sturmläuten gehört. An diesem Tag bekam er zum ersten Mal in seinem Leben Angst.
     
     
    Die Dorfbewohner waren auf die Straße gerannt. Es herrschte Durcheinander – Kinder weinten, Erwachsene schrien und versuchten, sich ihre liebsten Habseligkeiten aufzuladen. Ramón hob die Arme, um sich Gehör zu verschaffen: »Es ist eine Galeere!« Alle verstummten und blickten ihn an. »Sie kommt aus dem Süden. Sie fährt mit dem Wind, aber sie verwendet nicht nur ihre Segel, sondern lässt auch die Galeerensklaven mit voller Kraft rudern.«
    »Sie will Beute machen!«, rief Tomás, der zweite Mann der Besatzung der
Möwe
.
    »Ja, und es ist kein anderes Schiff in Sicht«, sprach Joans Vater weiter.
    »Sie haben es auf uns abgesehen!«, rief Daniel, ein anderer Fischer.
    »Das ist gut möglich«, bestätigte Ramón. »Hört zu. Wir machen es, wie wir es besprochen haben. Wir müssen die Frauen und Kinder oben im Sebastiansturm in Sicherheit bringen. Denkt nicht daran, euch mit irgendwelchen Lasten abzuschleppen! Nehmt die Waffen!«
    Bewundernd blickte Joan seinen Vater an. Ihm gehorchten nicht nur die Männer aus seinem Boot, sondern auch alle Übrigen im Dorf. Er war groß, nicht ganz so wie sein Freund Tomás, dafür aber kräftiger, und er wusste, was in jeder Lage zu tun war. Der Junge sah, dass seine Mutter Eulalia mit ängstlicher Miene an ihrer Haustür stand und die wenige Monate alte, untröstlich weinende Isabel an ihre Brust drückte. Diese hatte durch das Stillen einen üppigen Umfang angenommen. Daneben stand María, seine Schwester, die zwei Jahre älter war als er, und Gabriel, sein zehnjähriger Bruder. Beide hatten die hellen, honigfarbenen Augen des Vaters geerbt, die sie nun erschrocken aufrissen. Ramón ging zu ihnen, streichelte dem Jüngsten über den Kopf und küsste dann seine Frau auf die Wange. »Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut«, sagte er, wobei er ihr aufmunternd in die Augen blickte. Eulalia seufzte erleichtert und bemühte sich um ein Lächeln, während er sie zusammen mit dem Säugling umarmte.
    »Aber wir müssen uns beeilen«, erklärte Ramón nachdrücklich, bevor er ins Haus ging.
    »Los, schnell!«, rief die Mutter. »Joan, kümmer du dich um Gabriel!«
    María war hinter ihm, als er zusammen mit den anderen Frauen, den Kindern und zwei mit Pfeil und Bogen bewaffneten Großvätern zum Wehrturm loslief, dessen Glocke weiter drängend und beharrlich läutete. Joan begriff, dass es die Galeere tatsächlich auf sie abgesehen hatte. Er nahm Gabriel an der Hand, doch nach wenigen Schritten sagte er zu ihm: »Geh zusammen mit Mama und María. Ich komme gleich nach.«
    Als er zu ihrem Haus kam, sah er seinen Vater, der sich Panzerhemd und Eisenhelm übergezogen hatte. Armbrust und Pfeile trug er auf dem Rücken, und an seinem Gürtel hing ein Schwert. Joan bewunderte sein Auftreten und den kräftigen Arm, mit dem er die Azcona, seinen kurzen Wurfspieß, hielt. Sie würden die Piraten bestrafen, wie sie es verdient hatten. Er beschloss, dass er nicht mit den Frauen gehen, sondern seinem Vater im Kampf zur Seite stehen wollte, selbst wenn er ihm nur von weitem zusehen könnte.
    »Joan, geh zu deiner Mutter und zu Gabriel!«, rief dieser ihm zu.
    »Ich gehe gleich, Papa!« Er rannte ins Haus, um seinen Spieß zu holen, eine verkleinerte Nachbildung der schweren Azcona.
    Als er hinaustrat, sah er, dass die Männer bereits in Richtung Berg liefen. Sein Vater hatte die Führung übernommen. Sie beschützten die Nachhut der Gruppe der
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