Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit
Autoren: Jorge Molist
Vom Netzwerk:
als fiele eine Tür zu, als ließe er eine Last fallen, die er nicht halten konnte. Er blickte seinen Sohn nicht mehr an.
    Joan brauchte lange, um zu verstehen, dass er tot war. Ein entsetzlicher Kummer zerriss ihm das Herz.

4
    E r konnte nicht glauben, dass sein Vater nicht mehr lebte. Er wollte beten, doch ihm fiel das Gespräch ein, das sie gerade eine Woche zuvor an derselben Stelle geführt hatten, wo er ihm an diesem Morgen die Wolken gezeigt hatte.
    »Gib acht auf die Pinien und die Felsen«, hatte ihm Ramón damals gesagt.
    Das Meer wogte unruhig, und das blaue Wasser löste sich in weiße Schaumdecken auf, wenn es an die Steine brandete. Die Pinien wuchsen an allen möglichen Stellen zwischen den Felsen, manche kamen aus Spalten, was geradezu unglaublich wirkte, und drängten sich mit überraschender Kraft durch, bewahrten zuweilen ein sonderbares Gleichgewicht über dem Meer.
    »Ich sehe sie, Papa.«
    »Pass auf, Sohn. Eine Pinie ist stark, aber sie kann sich nicht bewegen. Sie ist nicht frei. Die Felsen sind noch stärker, aber sie sind tot, und leblose Dinge sind nicht frei.«
    Joan hörte ihm aufmerksam zu. Am Ton seines Vaters merkte er, dass es um etwas Wichtiges ging.
    »Gib jetzt acht auf die Möwen.«
    Er sah, dass sie hochflogen, bewegungslos in der Luft schwebten und plötzlich hinabstürzten, um sofort wieder aufzusteigen. Sie flogen hin und her, hoch und hinunter, womit sie einen fröhlichen und geheimnisvollen Tanz vollführten.
    »Ja, ich sehe sie.«
    »Sie sind frei. Sie fliegen, wohin sie wollen. Sie sind nicht hart wie der Felsen und auch nicht stark wie eine Pinie, aber sie fliegen, und niemand kann sie aufhalten oder zähmen.«
    Ramón schwieg nachdenklich, während ihn Joan ansah und gespannt auf seine nächsten Erklärungen wartete. Nach einer Weile zeigte er auf den Horizont im Westen, der von vielen Hügeln gesäumt war, und sprach weiter: »Dort leben Menschen, die vielleicht so stark wie diese Pinien sind, aber wie sie haben sie Wurzeln, die sie daran hindern, sich zu bewegen.«
    Der Junge versuchte, sich einen solch erstaunlichen Menschenschlag vorzustellen. Er betrachtete die großen Bäume ringsum, und da er sich an die Märchen erinnerte, die er am Herdfeuer gehört hatte, fragte er nach: »Sind das Riesen, denen man die Füße gefesselt hat?«
    Ramón lachte.
    »Nein, Joan, es sind keine Riesen. Sie sind wie wir.«
    »Wie wir?«
    »Scheinbar wie wir, und doch ganz anders.«
    »Worin sind sie anders?«
    »Sie sind Leibeigene. Man nennt sie
remensas

    »Was sind
remensas

    »Bauern, die einem Herrn unterworfen sind, für den sie arbeiten. Die Felder gehören dem Herrn und sie selbst auch. Sie dürfen nicht fortgehen, sie sind an das Land gebunden, als hätten sie dort Wurzeln geschlagen.«
    »Fliehen sie nicht?«
    »Das versuchen nur wenige, weil die Strafe sehr streng ist.«
    »Sie haben Angst«, überlegte der Junge.
    »Ja, Joan. Du hast es verstanden. Die Angst bewirkt, dass ihnen Wurzeln wachsen, die wie Ketten sind. Lass niemals zu, dass dich die Angst zum Sklaven macht.«
    Joan nickte zustimmend. Er kannte die Geschichte seines Vorfahren genau, der sich dem Joch der Leibeigenschaft entzogen hatte, indem er sich zum Dienst bei den Almogávares meldete – jenen Söldnertruppen, die mehr als ein Jahrhundert zuvor Ruhm und Reichtum in Griechenland errungen hatten. Der Ururgroßvater kehrte mit genug Beute zurück, um ein Boot zu kaufen und in Llafranc als freier Mann zu leben. Die Lieblingswaffe der Almogávares war die Azcona, ein kurzer und schwerer Wurfspieß, dessen Schaft dem einer Harpune glich. Die Azcona war für die Familie Serra das Sinnbild der Freiheit.
    Der Junge grübelte, während er sah, wie die Möwen über dem Meer flogen. Man hörte ihr Kreischen, das Wellenrauschen und die murmelnde Brise, die die Bäume sanft streichelte.
    »Hör gut zu, Joan«, sagte Ramón nach einer Weile. »Wir sind wie die Möwen: Wir brauchen nur ein paar Felsen und ein Stück Land für unser Nest. Wir sind Wesen des weiten Meeres, der wechselnden Winde. Wir sind frei wie sie.«
    Der Junge achtete auf die lauten weißen Vögel und bewunderte abermals ihren Flug.
    »Sobald sie fliegen gelernt haben, sind sie frei«, sprach sein Vater weiter. »Aber der Mensch nicht. Niemand schenkt dir deine Freiheit, ganz gleich, ob du frei oder als Sklave geboren wirst: Mit deinem Mut und der Kraft deines Arms musst du sie jeden Tag aufs Neue erringen. Ein Mann ist für seine Freiheit und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher