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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit
Autoren: Jorge Molist
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weit links von der Miliz auf, die der Mönch befehligte. Die Bürgerwehr stob erschrocken auseinander und zog sich zurück. Aus der Ferne sahen sie zu, wie die Piraten die Angehörigen der Dorfleute verschleppten. Ohne etwas zu tun.
    Als Tomás keuchend den Sand der Küste erreichte, brachten die Sarazenen gerade die letzten Gefangenen an Bord, und Joan kam es so vor, als hörte er einen Schrei, der vom Schiff herüberhallte. Vielleicht war es Marta, Tomás’ Frau.
    »Geh fort, Tomás!«
    Aber er gab nicht auf und lief am Strand entlang auf das Schiff zu. Er hatte seine Waffe gespannt, ohne dass er sie jedoch auf ein Ziel anlegte. Er war weniger als eine Armbrustschussweite von der Galeere entfernt, als ein weiterer dieser Donnerschläge ertönte und der Sand vor seinen Füßen hochspritzte. Tomás blieb stehen, und Joan glaubte schon, dass sie ihn wie seinen Vater verwundet hätten. Er verharrte reglos, als wäre er eine Steinsäule, und die Mauren stellten das Feuer ein. Alle Gefangenen waren nun an Bord, und die letzten Sarazenen am Strand stießen die
Möwe
ins Meer. Sie banden sie mit einem Tau an der Galeere fest und nahmen sie mit.
    Tomás schüttelte allmählich seine Reglosigkeit ab. Langsam, mit schwankenden Schritten wie ein Nachtwandler, ließ er seine Armbrust auf die Erde fallen und lief auf das Schiff zu, während die Sarazenen die Anker lichteten.
    »Marta! Elisenda!«, schrie er.
    Jemand antwortete, doch der Ruf ging unter im Lärm der Kommandorufe, der Schläge und der knarrenden Planken. Die Flut hob das Schiff hoch. Ein Hornsignal erklang, und auf einmal schnellten einhundertfünfzig Ruder empor und tauchten dann alle gleichzeitig mit einem unheilvollen Klatschen ins Wasser. Das große Kriegsschiff bewegte sich eindrucksvoll ins Meer zurück.
    »Marta! Elisenda!«, brüllte Tomás noch einmal wie ein Verrückter.
    Joan sah, wie er auf die Galeere zulief und zwischen den hochspritzenden Wellen hindurchrannte. Als ihn das tiefe Wasser zum Schwimmen zwang, stürzte er sich verzweifelt hinein.
    Die Galeere wendete und richtete den Bug aufs offene Meer. Die See war allzu blau und schön für eine so große Tragödie. Joan fühlte, dass die Sarazenen das Leben des Dorfes mit sich nahmen. Nie wieder würde es sich davon erholen. Niemals würde es das Gleiche sein.
    Nun gab ihn Daniel frei. Ohnmächtig und bezwungen sah Joan, während ihm die Tränen über die Wangen liefen, wie sich das Schiff aufs Meer hinausbewegte, bis es verschwand. Auf dem Sand hatten sie Isabels kleinen, blutigen Körper zurückgelassen. Das Mädchen versuchte zu kriechen. Es jammerte, und seine Klagelaute durchbrachen die Stille des Dorfes.
    Joan lief schwankend zu der Kleinen und nahm sie auf den Arm. Zusammen mit ihr ließ er sich erschöpft in den Sand fallen. Er wiegte Isabel und blickte zum Himmel, über den keine Wolken mehr zogen – er leuchtete nur noch unbarmherzig blau auf sie herab. Joan weinte bittere Tränen.
    Er war erschöpft und spürte, dass ihm der Kummer das Herz zerriss. Nie hätte er sich so viel Leid vorstellen können. Sein Vater, seine Mutter und seine Schwester. Vor ihm tauchten ihre Gesichter auf, und die Angst verwirrte seine Gedanken. Doch ein Gefühl übertraf alle übrigen: Er dachte daran, was er Gabriel sagen sollte, wenn dieser ihn nach ihren Eltern fragte.

6
    D ie Überlebenden begingen zusammen mit Freunden und Familienangehörigen aus Palafrugell die Totenwache, die sie für die Verstorbenen in deren Häusern hielten. Joan fühlte entsetzlichen Kummer, als er sich dem Leichnam seines Vaters gegenübersah. Doch bald begriff er, dass die Sorge um die Gefangenen größer war als die um die Verstorbenen.
    »Der hier hat aufgehört zu leiden«, murmelte eine Nachbarin, die wegen ihres Alters davongekommen war.
    Joan hatte ein scharfes Gehör und registrierte selbst die geflüsterten Kommentare, die in den fernsten Winkeln seines Hauses abgegeben wurden. Dieses bestand nur aus einem einzigen großen Raum. In der Mitte hatte man das Bett mit der Leiche seines Vaters aufgestellt.
    »Diese armen Frauen, die sie mitgeschleppt haben, die werden wirklich leiden«, sprach die Alte weiter.
    »Sie haben die schönsten Frauen des Dorfes mitgenommen«, raunte ein Mann mit sonnenverbranntem und runzligem Gesicht einem anderen zu, der wortlos nickte.
    Joan wollte die ganze Nacht bei dem reglosen Körper seines Vaters wachen, um sich von ihm zu verabschieden, doch die Strapazen des vergangenen Tages und die
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