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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit
Autoren: Jorge Molist
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eintönigen Gebete bezwangen seine Kräfte. Auf Knien, an die Wand gelehnt, schlief er irgendwann ein. Schließlich nahm ihn Tomás in die Arme und legte ihn auf das Bett, in dem bereits sein Bruder schlief.
     
     
    Joan wurde vom Trauergeläut der kleinen Glocke in der Sankt-Sebastians-Einsiedelei und dem Gemurmel der Leute, die sich bereitmachten, seinen Vater fortzutragen, geweckt. Er hielt die Augen geschlossen, denn er wollte den Traum festhalten, in dem seine Mutter ihm gerade das Frühstück bereitete. Die Erinnerungen an den Piratenüberfall glichen einem Albtraum, und gleich würde er in der Wirklichkeit erwachen, in der die ganze Familie vereint wäre. Wie immer, wie an jedem Tag, den er bisher erlebt hatte. Aber so war es nicht.
    »Joan! Gabriel!« Tomás schüttelte sie sanft. »Wacht auf, Kinder.«
    Die Fenster standen offen, und schon drang helles Tageslicht herein. Zwei Frauen saßen auf der Kaminbank und murmelten immer noch Gebete. Die Kerze auf dem Tisch war heruntergebrannt.
    »Nehmt Abschied von eurem Vater. Sie werden ihn jetzt ins Leichentuch hüllen.«
    Joan spürte, dass diese Worte wie ein Schlag gegen seine Brust waren. Er sah, wie man ein paar Betttücher bereitmachte, und begriff, dass er ihn nie mehr wiedersehen würde. Er stand auf und betrachtete ihn. Seine Gesichtszüge waren noch dieselben, und er hatte einen entspannten Ausdruck. Ein Laken bedeckte seinen Körper von der Brust bis zu den Füßen, und hätte er nicht mitten im Raum gelegen, so hätte Joan denken können, dass er einfach nur schlief. Er küsste ihn auf die Wange, und seine kalte Haut ließ ihn erschaudern. Er betastete den starken Arm, mit dem sein Vater die Harpune und die Azcona geschleudert hatte, und die Kälte und Starre ließen ihn endlich das Unbegreifliche verstehen. Dieser Mensch, den er in seinen kindlichen Wunschträumen für unverwundbar gehalten hatte, dieser Mann, der ihn liebte und beschützte, würde in wenigen Augenblicken für immer verschwinden.
    Gabriel wollte ihn nicht berühren.
    »Papa«, schluchzte er.
    Joan wusste, dass er seinen Bruder trösten musste, doch er merkte, dass er dazu nicht imstande wäre, dass er nicht so stark war wie sein Vater. Er umarmte Gabriel, damit er an seiner Brust weinen konnte, und während die Frauen die Tücher zusammennähten, überkamen Joan die Erinnerungen.
    Es war Frühling, und die Wale zogen parallel zur Küste durchs Meer nach Norden. Doch die Leute in Llafranc jagten sie nicht, denn die Tiere waren zu groß und kräftig. Ramón schlug seinen Männern vor, es dennoch zu versuchen, mit dem neuen Boot könnten sie es schaffen. Die meisten stimmten dafür, und Joan fuhr mit ihnen hinaus.
    Sie waren einen ganzen Tag und eine Nacht auf hoher See unterwegs, bevor sie sie entdeckten. Als sie sie endlich sahen, krampfte sich dem Jungen das Herz zusammen: Die Tiere stießen gewaltige Wasserstrahlen aus, und sie waren riesig, mindestens doppelt so groß wie ihr Boot. Vorsichtig ruderten die Männer heran, und als sie sich einem dieser Riesen ausreichend genähert und den geeigneten Abstand erreicht hatten, stand Ramón auf. Der Junge sah, wie sich die Muskeln im rechten Arm seines Vaters spannten, als er die Harpune hob, um sie mit aller Kraft in die dunkle und glänzende Haut des Wals zu schleudern. Das blaue und durchsichtige Wasser füllte sich mit Blut, und die Seeleute jubelten vor Freude. Nun zerrte das Ungeheuer mit gewaltiger Kraft am Boot, während Ramón den Wal noch einmal harpunierte, um ihn zuverlässig festzuhalten. Das Tier schleppte sie lange Zeit sehr schnell hinter sich her. Sie ruderten nicht, beteten nur, dass das Ungeheuer sie nicht in den Abgrund ziehen würde. Als es schließlich langsamer wurde, spannten sie das Segel auf, um das Tier zu zügeln, damit es müde wurde. Schließlich war es erschöpft, und von Rudern und Segel unterstützt, schleppten sie es nach Llafranc.
    Joan konnte erst richtig verstehen, wie groß das Tier war, als sich das ganze Dorf mit vereinten Kräften bemühte, den Körper an Land zu ziehen. Es wurde ein großes Fest.
    Joan war stolz auf seinen Vater. Er wollte an die Ruhmestat erinnern, indem er am Bug der
Möwe
ein Bild schnitzte, das Ramón zeigte, wie er den Wal harpunierte. Dafür brauchte er lange Zeit, doch es lohnte die Mühe.
    Als er aus seinen Erinnerungen auftauchte und den schon eingehüllten Körper seines Vaters sah, schüttelte er bitter und bestürzt den Kopf. »Das kann nicht sein«, sagte er sich
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