Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tempus (German Edition)

Tempus (German Edition)

Titel: Tempus (German Edition)
Autoren: Maud Schwarz
Vom Netzwerk:
Der Schwur

    Er schmiegte sich wie ein kleines Kind an mich. Seine Arme umklammerten meinen Körper. Es war so dunkel, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Umso deutlicher hörte ich seine Stimme. Ganz leise sprach er, obwohl es keinen Grund dafür gab. Wir waren allein. Niemand konnte uns hören, trotzdem flüsterte er. Worte, die ich nie vergessen würde; vielleicht auch, weil er sie nicht laut aussprach, sondern sie mir in verschwörerischem Ton zuraunte.
    Und ich? Ich flüsterte zurück. Wir waren wieder zwei Kinder, die ein Geheimnis hatten und es mit keinem Menschen auf der Welt teilen wollten.
    »Ich werde dich für immer lieben«, sagte Harry. »Versprich mir, dass du mich auch für immer lieben wirst!«
    »Ja, ich werde dich auch für immer lieben«, gelobte ich feierlich.
    »Wir werden bis zu unserem Tod zusammenbleiben«, hörte ich ihn dicht an meinem Ohr sagen. Ich konnte seine Lippen spüren. »Versprich es mir!«
    »Ich verspreche es. Bis zu unserem Tod und darüber hinaus«, antwortete ich und fühlte mich so glücklich wie nie zuvor. Harry zog mich noch dichter an sich heran und küsste mich. Damit war unser Versprechen besiegelt.
    Schon wenige Wochen später musste ich es brechen.
    Es war ein Sonntagmorgen – heiß und drückend. Ganz in der Nähe zankten sich kreischend ein paar Affen. Wir saßen auf unserer Veranda beim Frühstück, als Hedda und Erik mir in wenigen Sätzen eröffneten, dass wir nach Schweden zurückkehren würden. Kenia sei ihnen politisch zu unsicher geworden, hörte ich sie wie aus der Ferne sagen. Ich sah, dass sich ihre Münder bewegten. Mit ein wenig Verspätung drangen ihre Worte an mein Ohr. Nach und nach begriff ich, dass meine Eltern ihren Job im Krankenhaus bereits gekündigt und vollendete Tatsachen geschaffen hatten. Das Stückchen Marmeladenbrot, das ich gerade abgebissen hatte, blieb mir im Hals stecken. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt.
    Irgendwann später fand ich mich in meinem Zimmer wieder. Hedda und Erik kamen abwechselnd herein, setzten sich zu mir ans Bett und versuchten, mit mir zu reden. Aber ich wollte ihre Argumente nicht hören und auch nicht ihren Trost, den es für mich sowieso nicht gab. Ich weinte, tobte, schluchzte, verfiel in Apathie. Es nützte nichts. Meine Eltern hatten längst über meinen Kopf hinweg entschieden. Meine Aufgabe war es, zu nicken und das zu machen, was sie wollten.
    Fast mein ganzes Leben hatte ich in Kenia zugebracht. Die afrikanische Steppe war mein Zuhause. Unzählige Male war ich mit Hedda und Erik an ihren freien Tagen über Schotterpisten von Dorf zu Dorf gefahren, wo sie kranke Menschen in mehr oder weniger provisorischen Gesundheitsstationen behandelten. Mit alldem sollte nun Schluss sein. Hedda und Erik wollten ihre afrikanischen Patienten aufgeben, und mich zwangen sie, mit meinen Freunden dasselbe zu tun. Dabei hatte ich Harry gerade erst ein Versprechen gegeben. Doch das zählte jetzt nicht mehr.
    Mitte Juni verabschiedeten wir uns. Es war der schrecklichste Moment meines Lebens. Harry und ich standen vor dem Haus seiner Eltern. Wir umarmten uns so fest, wie in der Nacht unseres feierlichen Schwurs. Seit meinem fünften Lebensjahr waren wir unzertrennlich; nun riss man uns auseinander. Meine Welt zerbrach in tausend Stücke – und auch mein Herz. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass etwas so schmerzen konnte. Harry ging es ebenso.
    »Geh nicht«, murmelte er.
    »Ich wünschte, ich könnte bleiben«, schluchzte ich.
    »Wann kommst du wieder?«
    »Sobald ich kann.«
    »Ich werde auf dich warten.«
    »Wenn ich erst wie du achtzehn bin, können mir meine Eltern nichts mehr verbieten. Dann komme ich wieder.«
    »Ich werde auf dich warten. Zwei Jahre und, wenn es sein muss, auch länger.« Harry lächelte traurig.
    Ich schaffte es nicht, mich aus seinen Armen zu lösen. Es war Hedda, die schließlich dafür sorgte, indem sie durch das halb heruntergelassene Autofenster rief: »Elina, komm jetzt, wir verpassen unseren Flieger!« Damit war alles vorbei. Wie in Trance fuhr ich mit meinen Eltern zum Flughafen in Nairobi. Als ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, waren wir bereits in Schweden. Regen und Sturm empfingen uns.

Mails aus Afrika

    Die ersten Monate nahm ich mein neues Zuhause in Helsingborg wie durch einen Schleier wahr. Das Einzige, für das ich lebte, waren die Mails von Harry. Die Tage bestanden daraus, auf sie zu warten, sie abzurufen. Morgens gleich nach dem Aufstehen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher