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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit
Autoren: Jorge Molist
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Das Buch war nicht sehr groß, und bald schon erkannte sie seine Ähnlichkeit mit der Übersetzung des
Verliebten Roland
. Und sie hatte Joans Liebesbrief enthalten. Das Buch hier war schmaler, gewiss umfasste es weniger Seiten, doch sein Äußeres sah sehr ähnlich aus.
    Sie nahm es in die Hand, streichelte die Textur seiner Deckel und genoss den Geruch des Leders, der Farbe, des Papiers und eines sanften weiteren Duftes, den es verströmte.
    Sie wusste, dass Matteo Boiardo zwei weitere Bücher des
Verliebten Roland
geschrieben hatte. Aber das Buch hier gehörte anscheinend nicht dazu. Schon als sie es aufschlug, sah sie, dass es eine Handschrift war und dass die Buchstaben ganz so wie in der Übersetzung aussahen, die sie aus Barcelona erhalten hatte.
    Auf der ersten Seite stand noch einmal der Buchtitel, ohne dass der Autor erwähnt wurde. Auf der nächsten Seite folgte eine mit schönen Buchstaben geschriebene Einführung.
    Dies ist das Buch der Liebe von Roland für Angelica.
    In der traurigen, unseligen Nacht, in der Roland glaubte, Angelicas Liebe verloren zu haben, schrieb er dieses Buch für sie, dessen Tinte sein Herzblut war und dessen Worte aus seiner gepeinigten Seele kamen. Darin bekundete er seiner Dame seine Zuneigung, Zärtlichkeit und Leidenschaft, und er erzählte ihr seine Geschichte, die seiner Liebesabenteuer und die seiner Qual. Das Buch erklärte Angelica, dass der Ritter ohne sie sterben werde, denn er lebe nur um ihretwillen. Dass sie Rolands Herrin und Meisterin sei, dass er ihr bedingungslos seine Liebe schenke und sie bitte, dieses Buch anzunehmen. Dass der Ritter ihm und der Güte der Dame sein Schicksal anvertraue.
    Anna erschauderte. Sie suchte hinter dem Stuhl nach ihrem Mantel, nur um sich dann zu erinnern, dass sie ihn am Eingang zurückgelassen hatte. Sie wollte ihn nicht holen. Sie musste die Lektüre fortsetzen.
    Angelica las das Buch, und die Liebe, die es verströmte, heilte ihre Wunden, und zusammen mit der Liebe kamen Rolands Vergebung und Erlösung.
    Anna rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Nachdem sie die Einführung fertiggelesen hatte, schlug sie die nächste Seite auf.
    Roland war noch ein Kind, als er an einem tragischen Morgen sah, wie böse Leute seinen Vater grausam ermordeten und seine Mutter und seine Schwester brutal in weite Ferne verschleppten. Als Waisenkind wurde er aus seinem Dorf vertrieben und in die Großstadt gestoßen, einen dunklen, unbekannten, feindseligen und unheilvollen Ort, der in ihm nur Furcht und Sorge erweckte. Doch in dieser Finsternis entdeckte Roland ein Mädchen, das so schön war, dass er es nicht für wirklich hielt.
    Sie hatte strahlend grüne Augen, helle Haut und pechschwarzes Haar, und sie kleidete sich elegant. Sie hieß Angelica und erschien ihm wie eine Prinzessin. Roland hingegen hatte sonnengebräunte Haut und derbe Kleidung, und er sah aus wie ein Bettler.
    Doch sie missachtete ihn nicht, sondern erwiderte seinen Blick und lächelte ihm zu. Dabei zeigte sie schöne weiße Zähne und anmutige Grübchen an ihren Wangen. Dieses Lächeln erhellte die dunkle Stadt, verscheuchte alle Ängste und schlechten Vorzeichen. Roland erschauderte, und noch in diesem Augenblick traf ihn die Liebe wie ein Blitzschlag, ohne dass er es verhindern konnte. Diese große Liebe sollte sich für immer in dem Jungen erhalten und ihn über Leben und Tod hinaus begleiten.
    Anna bemühte sich, die Augen von dieser Seite abzuwenden. Die Buchstaben zogen sie wie ein Magnet an. Sie erkannte die Schrift. Es war dieselbe wie die im ersten Buch, und ihr wurde bewusst, dass es Joans Worte waren. Sie spürte, dass sie zitterte, während ihr Tränen in die Augen traten. Die Geschichte war schön, nahm jedoch ein tragisches Ende. Was wollte er erreichen, indem er sie daran erinnerte? Sie nahm an, dass Joan in der Nähe sein musste, wollte ihm jedoch nicht begegnen, wollte ihm nicht in die Augen sehen. Schwankend stand sie auf und lief zur Tür. Sie verließ die Buchhandlung, ohne sich zu verabschieden, wobei sie sogar ihren Mantel vergaß. Sie lief durch die leere Straße, die der Wind und ein mit Hagelkörnern vermischter Regen peitschten. Dabei hielt sie sich den Bauch mit beiden Händen. Ein jähes Schluchzen schüttelte sie. Fliehen, sie wollte fliehen.
     
     
    Joan hatte Anna die ganze Zeit beobachtet. Antonello hatte ihm das Geheimnis seines Lesezimmers verraten. Zwischen den Buchreihen waren Spalten in der Wand versteckt, durch die man aus dem
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