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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Autoren: Daniel Twardowski
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1.
    Die Stadt der Toten lag auf einem langgestreckten Hügel über der Stadt der Lebenden. Jetzt, Ende Februar 1865, waren die Bäume und Büsche kahl, und nur der Nebel entzog Gräber, Grüfte und Mausoleen dem Blick aus dem Tal der Seine. Grau war der Sandstein geworden und mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, seit hier der erste Sarg in die Erde gelassen wurde. Siebzigtausend waren ihm seither gefolgt und die Cimetière du Père Lachaise zu einer moosüberwucherten Nekropolis der steinernen Engel, weinenden Statuen, Marmorportale gewachsen, für die es keinen Stadtplan und keine Karte gab.
    Es wurde früh dunkel. Ein schlurfender Kirchendiener lief schon seit einer Stunde mit einer Handglocke die breiten Wege ab, um den Besuchern zu verkünden, dass der Friedhof geschlossen würde. Als Letzter, die Friedhofswärter wussten es schon, kam wieder der Engländer. Ein Ahnenforscher, hieß es, und sie lachten über ihn, der selbst im tiefsten Winter, die Hände in fingerlosen Handschuhen, die verstecktesten Pfade abging und auf einem schmutzigen Bogen Papier einzeichnete. Er suchte die ersten, ältesten Gräber, hieß es, und musste deshalb oft dicht an die verwitterten Grabsteine heran, um die von Regen und Zeit ausgewaschenen Buchstaben und Zahlen entziffern zu können. Einmal war eine Grabplatte unter ihm eingebrochen, und er konnte von Glück sagen, dass man seine Schreie gehört und ihn zwischen den Knochen herausgesammelt hatte, ehe die Nacht und die Kälte kamen.
    Der Engländer war ein kleines, verhutzeltes Männchen, schlecht rasiert und ernährt, der in den Kleidern, die er den ganzen Winter hindurch und offenbar auch schon lange vorher getragen hatte, beinahe selbst aussah wie eine der alten Leichen, die er so eifrig aufsuchte. Die schmiedeeisernen Tore schlugen hinter ihm zu, ein riesiger Schlüssel drehte sich jaulend im Schloss. Wieder ein Tag.
    Er ging langsam den Hügel hinunter, überlegte, ob er sich heute eine Droschke leisten sollte, und entschied sich dann dagegen. Nach anderthalbstündigem Fußmarsch quer durch die riesige Stadt erreichte er, am Ende doch jämmerlich durchgefroren, sein Quartier. Die Concierge, eine dumme junge Person mit großen Brüsten und kleinem Kopf, begrüßte ihn, ehe er im zugigen Treppenhaus an ihrem Fenster vorbeihuschen konnte.
    »Ah, Monsieur! Sie hatten Besuch.« Sie sagte es so strahlend wie jemand, der froh ist, eine erfreuliche Mitteilung weiterzugeben, und tatsächlich hatte die Concierge sich gefreut, als Monsieur Jacqueson heute Besuch bekam. Er hatte noch nie Besuch bekommen in den zwölf Monaten, die er jetzt oben im spärlich beheizten Dachgeschoss wohnte. Zeitweise war er ihr schon ein wenig unheimlich vorgekommen in seiner Absonderlichkeit, denn sie las mit Hingabe die Mord- und Schauergeschichten in den fliegenden Blättern.
    »Besuch?«, fragte er jetzt, als hätte er sie nicht richtig verstanden. Sein Französisch war manchmal komisch, aber immer sehr schlecht. »Besuch für mich?« Seine Augen flackerten unruhig. »Wo? Wann? Wer?«
    »Oh, ein Mann, ein Freund«, sagte sie nicht mehr ganz so strahlend. »Heute Nachmittag. Er kennt Sie, er weiß Ihren Namen!« Sie dachte jetzt selber an einen Polizisten.
    »Wo? Wo ist er?«, fragte Jackson zitternd vor Kälte und drehte sich suchend um, bevor sie noch antworten konnte.
    »Er ist wieder fortgegangen, ich soll Sie grüßen. Morgen früh um acht wird er Sie aufsuchen.«
    »Morgen!«, sagte Jackson, und sein Mund öffnete sich mehrmals. Sein Atem strich kalt über ihr Gesicht, als er jetzt ganz nahe herankam. »Sicher? Ist er sicher fort? Er ist nicht mehr da?!« Als er sah, dass er der jungen Frau Angst machte, verzog er den Mund zu einem hässlichen Grinsen. »O ja, morgen. Ein guter Freund, ja. Vielen Dank.«

2.
    Eine Entführung war es jedenfalls nicht.
    John Gowers war in den letzten drei Tagen und Nächten viel gelaufen, um das herauszufinden. Jetzt, als er es wusste, zog er zuerst seine Stiefel aus, noch ehe er die Tür hinter sich abschloss. Der Himmel über New York war dunkel wie blaue Tinte und würde bald schwarz sein.
    Gowers ließ die Beute des Tages auf den Schreibtisch fallen und öffnete das einzige Fenster seines Büros, machte aber kein Licht. Er zog den Vorhang zurück, der den Raum teilte; den größeren Teil zum Arbeits- und Empfangsraum für Klienten, den kleineren zu Schlafzimmer und Küche machte – wenn man es denn so nennen wollte. Ohne hinzusehen, nahm er ein Glas aus dem
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