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Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Autoren: Mary Mackey
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und zwar so sehnlichst, daß sie, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätte, eine Goldkette zu stehlen – oder »auszuleihen« –, diese Gelegenheit wahrscheinlich ergriffen hätte. Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, wünschte sie sich ein Pferd. Solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie davon geträumt, nach Norden zu reiten, um ihren Bruder Keru zu suchen. Sie und Keru waren Zwillinge, und seit er spurlos verschwunden war, hatte es keinen Tag gegeben, an dem sie ihn nicht schmerzlich vermißte. Ohne ihn empfand sie sich niemals so richtig als Ganzes, und jetzt bot Keshna ihr die Chance, das zu tun, was sie so brennend gerne tun wollte, daß ihr der bloße Gedanke daran Zahnschmerzen verursachte.
    »Du willst diese Pferde haben«, sagte Keshna triumphierend. »Das sehe ich an deinen Augen. Du willst sie, aber du hast Angst, es auszusprechen. Das Problem ist, daß du dir nicht eingestehen willst, wer du wirklich bist. Du und ich, wir sind nicht wie andere. Wir sind ein neuer Menschenschlag. Ich habe eine Nomadenmutter, und du hast einen Nomadenvater, mein Vater gehört dem Muttervolk an und deine Mutter ebenfalls. Sieh dir uns nur an. Selbst unsere Körper sind anders.«
    Luma wußte, daß Keshna auch in diesem Punkt recht hatte. Sie waren tatsächlich anders als die anderen. Im stillen listete Luma jene Unterschiede auf, die sie von allen anderen unterschieden. Sie waren beide ein ganzes Stück größer als die gleichaltrigen jungen Mädchen und sogar die erwachsenen Frauen des Muttervolkes. Keshna war plump, gedrungen und stark, sie besaß die Grazie einer Tänzerin, die sie wahrscheinlich von Arang geerbt hatte, aber sie hatte bereits die Größe eines ausgewachsenen Mannes, während Luma alles und jeden auf eine Art und Weise überragte, die sie oft befangen und unsicher machte. Sie schien fast nur aus Armen und Beinen zu bestehen, war schlank und langgliedrig und schon fast so groß wie ihr Nomadenvater, Stavan. Luma wußte, daß die Leute stutzten, wenn sie sie das erste Mal erblickten, und obwohl kein Erwachsener sie jemals wegen ihrer Größe geneckt hatte, hatte ihr erst letzte Woche ein kleiner Junge hart mit einem Stock gegen die Schienbeine geschlagen und allen in Hörweite verkündet, die »Riesin« sei zu Besuch gekommen.
    Luma dachte oft wehmütig, daß sie wahrscheinlich ohne weiteres als Vollblut-Sharanerin hätte durchgehen können, wenn sie nicht so groß gewesen wäre. Ihr Haar war sehr glatt und ungewöhnlich fein, aber es war tiefschwarz – von derselben Farbe wie das ihrer Mutter –, und ihre Augen waren braun, mit nur ganz schwachen, bernsteinfarbenen Sprenkeln in der Iris, die darauf hindeuteten, daß sie womöglich Nomadenblut in den Adern hatte. Keshna dagegen hatte Augen, die die Jungen dazu brachten, sich nach ihr umzudrehen, als säßen ihre Köpfe auf Spindeln, und sie bewundernd anzustarren. Dunkle Augen, schwarz wie ein mondloser Himmel ohne Sterne, umrahmt von langen, üppigen schwarzen Wimpern: gefährliche, kluge, trügerische Augen, wie Luma nur zu gut wußte; aber die Jungen sahen niemals die Gefahr in Keshna, bis es zu spät war. Und Keshnas Haar: Wer hatte jemals solches Haar gehabt? Es war braun, aber von einer Art, wie man sie bei den Mutterleuten niemals fand: mit einem satten rötlichen Schimmer wie frische Rinde und wild gelockt, als sei Keshnas unberechenbares Naturell geradewegs durch ihre Kopfhaut gewachsen.
    Auch die Männer hätten sich nach Keshna umgedreht – und sei es nur wegen ihres prachtvollen Haares –, aber die Männer hatten weder für sie noch für Luma einen Blick übrig, zumindest jetzt noch nicht, weil die erwachsenen Männer des Muttervolkes nicht auf Mädchen achteten, die noch als Kinder galten. Und das, dachte Luma, ist der Hauptunterschied zwischen uns beiden und jedem anderen Mädchen auf Alzac.
    Hier waren sie und Keshna – die eine vierzehn, die andere fast vierzehn –, und zu ihrer beider Demütigung trugen sie noch immer ihre Kinderhalsketten aus Muscheln und Perlen wie zwei Elfjährige. Und warum? Warum galten diese beiden großen, drallen Mädchen noch immer als
Kinder,
obwohl sehr viel jüngere Mädchen als sie bereits Frauen waren und einige sogar schon Mütter? Weil sie nicht in dem Alter geblutet hatten, in dem Mädchen zum ersten Mal ihre Monatsblutung haben sollten.
    Luma hatte plötzlich eine bedrückende Vision von sich selbst als alter Frau, die noch immer ihre Kinderhalskette trug, noch immer auf der Insel
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