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Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Autoren: Mary Mackey
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lange, schwere, massive Kette von der Art, die einst den Hals eines Nomadenhäuptlings geschmückt haben mußte. Keshna ließ die prachtvolle Kette vor Lumas Nase baumeln und lachte übermütig. »Da staunst du, was?«
    Luma wollte nach der Kette greifen, aber Keshna riß sie blitzschnell weg und hielt sie knapp außerhalb ihrer Reichweite, während sich ihr Mund zu einem spöttischen Lächeln verzog.
    »Wie bist du an eine so kostbare Kette gekommen!« rief Luma. »Welchen Tempel hast du ausgeraubt?«
    »Nun reg dich doch nicht gleich so auf.« Keshna ließ die goldene Kette hastig wieder in ihrem Lederbeutel verschwinden. »Niemand hat sie gebraucht, also habe ich sie mir ausgeliehen.«
    »Du meinst, du hast sie
gestohlen?«
Luma war zutiefst schockiert. Diebstahl war unter den Angehörigen des Muttervolkes fast unbekannt, aus dem einfachen Grund, daß bis vor kurzem niemand irgend etwas Wertvolles besessen hatte. Vor dem Einfall der Nomaden war bis auf einige wenige persönliche Gegenstände alles in gemeinschaftlichem Besitz gewesen. Häuser, Tiere, Nahrungsmittel, Tempelschmuck, Werkzeuge, ja sogar Kochtöpfe und Krüge mit Öl waren Eigentum der ganzen Familie oder der Gemeinde. Das Land war der Körper der Göttin Erde Persönlich, daher war der bloße Gedanke, es besitzen zu wollen, Blasphemie. Oben im Norden in der Gegend um Shara änderte sich die ganze Auffassung von Eigentum so rapide, daß der Begriff oft von einem Dorf zum nächsten ganz unterschiedlich ausgelegt wurde. Aber Luma hatte in dem Gebiet gelebt, das allgemein als die »Gesegneten Länder« bezeichnet wurde, wo die Nomaden niemals eingefallen waren und wo man die Dinge noch immer auf die alte Weise handhabte.
    »Ich habe mir die Kette von Arang geborgt«, erklärte Keshna unverfroren.
    »Von deinem eigenen Aita! «
    »Von meinem
Vater«,
korrigierte Keshna sie, das Nomadenwort benutzend. »Er wird die Kette sowieso nicht vermissen, außerdem habe ich doch wohl einen Anspruch darauf, weil sie mein Erbe ist. Du scheinst zu vergessen, meine liebe Cousine Luma, daß ich Keshna bin, Tochter von Arang, Sohn von Achan, Sohn von Zuhan, was bedeutet, daß ich die älteste Tochter eines Großen Häuptlings wäre, wenn wir in der Steppe lebten, und dieser hübsche Tand hier«, sie klopfte auf den Beutel an ihrer Taille, »wäre nur ein kleiner Teil meiner Mitgift.«
    Luma wußte, wenn sie auch nur einen Funken Verstand besäße, würde sie aufstehen und weggehen und sich kein weiteres Wort mehr anhören; aber sie mußte feststellen, daß sie alles andere als vernünftig war, und verrückterweise freute sie dieser Gedanke. »Wie kannst du nur deine Abstammung über die männliche Linie zurückverfolgen, wie es die Nomaden tun, obwohl die Nomaden unsere großen Feinde sind?« Luma fuchtelte mahnend mit dem Zeigefinger vor Keshnas Nase herum. »Alle Kinder stammen von der Göttin Erde ab, und zwar durch ihre Mütter.«
    »Komm mir nicht mit so frömmlerischem Gerede!« fauchte Keshna. »Ich mag die Nomaden genausowenig wie du. Einige sind harmlos, aber die meisten sind ein Haufen mordender Bastarde, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als gegen sie zu kämpfen. Aber wir beide sind Halbnomaden, und wenn es praktischer ist, wie sie zu denken, dann tue ich das, und ich sehe auch nicht ein, warum ich mich dessen schämen sollte. Diese Goldkette war da, wo Aita Arang sie versteckt hatte, für niemanden von Nutzen, und wenn wir uns mit ihrer Hilfe Pferde beschaffen können, um von dieser blöden Insel wegzukommen, dann wäre es doch dumm gewesen, sie nicht mitzunehmen.«
    Keshna hatte natürlich recht; doch Luma wußte, daß sie gleichzeitig auch sehr unrecht gehandelt hatte. Luma grübelte angestrengt, um herauszufinden, was das größere Recht oder das größere Unrecht war, aber ihre Gedanken wirbelten nur unentwegt zwischen den beiden Begriffen hin und her. Früher, als ihre Mutter noch ein junges Mädchen gewesen war, bevor die Nomaden die Verehrung der Göttin angegriffen hatten, hätte sich eine solche Frage überhaupt nicht gestellt. Das war das Problem heutzutage: Alles war ein einziges Durcheinander, in dem zwei rivalisierende Kulturen mit völlig unterschiedlichen Wertvorstellungen und Gesetzen aufeinanderprallten und sich so unentwirrbar miteinander vermischten, daß man nicht mehr wußte, was man denken sollte.
    Luma saß schweigend da, starrte Keshna an und überlegte, was sie als nächstes sagen sollte. Sie wollte diese beiden Pferde haben,
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