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Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Autoren: Mary Mackey
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da die Ernte eingefahren war, konnten sie dringend etwas Regen gebrauchen, der die Luft von dem Staub reinigte.
    Marrah legte ihren geflochtenen Fächer beiseite und machte es sich bequem. Sie ruhte auf einem großen blauen Kissen im Gemeinschaftsraum ihres Mutterhauses, umgeben von den Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebte. Ihre drei Kinder –Luma, Keru und ihre Adoptivtochter Driknak – waren gerade damit beschäftigt, unter der Aufsicht ihrer Cousine Keshna aus gefärbtem Leinen und dickem Weizenkleister Drachen zu bauen. Keshnas Mutter, Hiknak, reparierte die Klinge einer Sichel, obwohl sie erst im nächsten Jahr wieder gebraucht werden würde. Arang, Marrahs Bruder, studierte gerade seinen neuesten Tanz ein und vollführte langsame Rückwärtssaltos vor dem Fenster; er beugte sich dabei so weit zurück, daß Marrah Angst bekam, sein Rückgrat könne brechen, wirbelte dann plötzlich durch die Luft und landete leichtfüßig auf dem Fußballen. In dem Raum war noch eine Reihe weiterer Familienmitglieder versammelt – Onkel, Tanten und Cousinen mit ihren Kindern, die alle mit lauten Stimmen durcheinander redeten und fröhlich lachten. Im Gemeinschaftsraum eines sharanischen Mutterhauses ging es immer ziemlich laut und munter zu. Wenn man seine Ruhe haben wollte, mußte man hinausgehen oder sich die Ohren mit Bienenwachs verstopfen.
    Marrah rief Arang einen Rat zu und lehnte sich zurück, um ihm zuzusehen; ihr Kopf ruhte in einer vertrauten Geste an der Schulter ihres Geliebten, Stavan, der erst vor kurzem aus der Steppe zurückgekehrt war. Sein gebrochenes Bein, von irgendeinem zweitklassigen Heiler ziemlich nachlässig zusammengeflickt, tat ihm immer noch weh, deshalb hatte er es auf ein kleines Kissen gelegt.
    Sie blickte lächelnd zu ihm auf, und er erwiderte ihr Lächeln. Obwohl er erst Ende Zwanzig war, war Stavans blondes Haar bereits mit grauen Strähnen durchsetzt, und das Lächeln, das er Marrah schenkte, war von Melancholie erfüllt. Vielleicht würde die Göttin Erde ihm, wenn noch mehr Zeit verstrichen war, die Kraft geben, die Vergangenheit endgültig zu vergessen. Inzwischen war Marrah froh, ihn wieder bei sich zu haben, lebend und mehr oder weniger gesund.
    Sie nahm seine Hand und verflocht ihre Finger mit den seinen, und eine Zeitlang saßen sie ruhig da und schauten Arang zu. Nach einer Weile verlor Marrah das Interesse und wandte ihre Aufmerksamkeit den Kindern zu. Die Arbeit an den Drachen ging recht gut voran. Driknak, eine Vollblutnomadin, arbeitete auf Nomadenart langsam und methodisch, sie klebte Stücke von weißem Leinen an die Stützstreben, so daß sie eine Art Viereck bildeten, während Keshna, die kleinen Hände in die Hüften gestützt, daneben stand und ungebetene Ratschläge erteilte. Keshna war Halbnomadin, ein dunkeläugiger Wildfang von einem Mädchen, schnell wie ein Fisch und eigensinnig und hart wie eine Wand. Sie war erst sechs, aber sie kommandierte ihre sanfte Cousine herum, als sei Driknak zwei Jahre jünger und nicht zwei Jahre älter als sie.
    Keshna verbrachte die eine Hälfte ihrer Zeit damit, Unfug anzustellen, und die andere Hälfte mit dem Erfinden raffinierter Ausreden, um der Strafe zu entgehen. Im vergangenen Jahr war sie aus dem ersten Stock des Mutterhauses gesprungen und hätte sich dabei beinahe den Schädel auf den harten Fliesen des Eingangs eingeschlagen; sie war krank geworden, weil sie als Mutprobe Würmer verzehrt hatte; und sie hatte ihre Cousins und Cousinen zu einem lebensgefährlichen Abenteuer angestiftet, indem sie heimlich ein kleines Boot organisiert hatten. Hätte Arang sie nicht durch Zufall entdeckt, würden die vier Kinder jetzt wahrscheinlich auf (oder vermutlich eher unter) den Wogen des Süßwassersees treiben.
    Luma, Marrahs jüngste Tochter, war ebenfalls ein temperamentvolles Kind, aber sie war zumindest so vernünftig, keine Würmer zu essen oder tollkühn von Dächern zu springen. Marrah bemerkte, daß es Luma in ihrem Eifer gelungen war, mindestens eine halbe Muschel voll Weizenkleister auf ihrem Gesicht und ihren Händen zu verteilen, was hieß, daß sie vor dem Schlafengehen noch einmal gründlich gewaschen werden mußte. Die Streben ihres Drachens drehten sich in alle x-beliebigen Richtungen, und sie war gerade dabei, rote Flügel und einen blauen Schwanz sowie Hörner und Froschbeine daran zu befestigen. Marrah hätte ein Glas Honig darauf verwettet, daß er besser fliegen würde als Driknaks Drache.
    Kerus Drachen
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