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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern
Autoren: Kirsten Winkelmann
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ich mich allerdings, ob ich die Einzige bin, die das tut. Frau Schaffrick zum Beispiel fängt immer an zu schnarchen, wenn die ersten Minuten vorbei sind. Und Mama studiert jedes Geräusch, das sie von sich gibt. Jedenfalls hält sie auf dem Rückweg immer Referate darüber, wie unmöglich sich die alte Dame benommen hat. Papa sieht so aus, als würde er andächtig zuhören, aber wenn ich ihn auf dem Rückweg nach seiner Meinung frage, stelle ich fest, dass er überhaupt nichts mitbekommen hat. Noch schlimmer ist es mit Henning. Wenn er auch da ist, textet er mich ununterbrochen mit den Spielergebnissen vom Samstag zu.
    Livia musste grinsen. Manche Dinge änderten sich eben nicht …
    Sie las weiter. Es folgten noch viele Geschichten über Henning, dann ein nüchterner Bericht über seinen nüchternen Heiratsantrag und ihr ebenso nüchternes „Ja“. Vom Tag ihres Einverständnisses an änderten sich die Eintragungen. Jedenfalls äußerte sie in ihrem Tagebuch keine Zweifel mehr an der Hochzeit. Stattdessen war sie wohl dazu übergegangen, die Sache schönzureden. Immer wieder las sie Sätze wie: Es ist richtig. Es ist meine Bestimmung. Ich passe auf diesen Hof. Ich mag Henning.
    Je mehr sie sich jedoch mit dem Gedanken an ein Leben an Hennings Seite arrangierte, desto mehr Zweifel äußerte sie an der Existenz Gottes. Jeden Sonntag gab es Eintragungen, in denen es um genau dieses Thema ging. Wenn es Gott wirklich gäbe, dann würde er doch wissen, dass ihre Mutter den Gottesdienst nur besuchte, um über andere herzuziehen. Aber er tat nichts dagegen – warum nicht? Und die kleine Hannah mit dem Downsyndrom … wenn es Gott wirklich gäbe, dann hätte er nicht zugelassen, dass sie mit solchen Einschränkungen geboren wird, oder? Andererseits … war Hannah neben Pastor Wittek die Einzige, die ihr sonntagsmorgens freundlich zunickte …
    Auch die letzte Eintragung, die in dem kleinen Büchlein zu finden war, stammte von einem Sonntag. Darin ging es jedoch nicht um den Gottesdienst, sondern vielmehr um den darauffolgenden Montag. Offensichtlich wollten Angelika und ihre Mutter nach Hamburg fahren, um sich dort nach einem Brautkleid umzusehen. Angelika schien darüber nicht sehr begeistert zu sein. Über viele Zeilen hinweg beschwerte sie sich darüber, dass es für ein Brautkleid noch viel zu früh sei. Außerdem wisse sie überhaupt nicht, welche Art von Kleid sie tragen wolle. Von der Tatsache, dass ihre Mutter einen furchtbaren Geschmack habe und ihr bestimmt ein katastrophales Kleid aufdrängen würde, einmal ganz zu schweigen …
    Livia konnte die Emotionen, die hinter diesen Worten standen, nicht nur am Inhalt, sondern auch an der Handschrift ablesen. Jedenfalls wurde sie von Satz zu Satz krakeliger und unsauberer.
    Schließlich endete das Ganze mit diesem verzweifelten Text: Gott, warum lässt du mich so im Stich? Warum schickst du mir keinen Mann, den ich liebe? Warum übersiehst du mich immer? Weißt du überhaupt, wen du da gemacht hast? Ich weiß es jedenfalls nicht! Ich weiß nicht, wer ich bin … was ich kann … wo und wie ich leben will … was ich mag und nicht mag … ich weiß gar nichts mehr. Gar nichts! Gott, wenn es dich gibt, dann zeig mir all das! Zeig es mir. Ich flehe dich an, zeig es mir!

Kapitel 50
    Es war so still, als wäre die Zeit stehen geblieben.
    Livia wagte kaum zu atmen. Sie rührte sich nicht, saß einfach nur so da und starrte auf die Worte, die sie gerade gelesen hatte.
    Irrte sie sich oder hatten sich die Lichtverhältnisse verändert? Es kam ihr so vor, als leuchtete ein wärmeres, intensiveres, rötlicheres Licht in ihr Zimmer hinein. Und das war nicht die einzige Veränderung. Sie fühlte sich auch … anders … irgendwie klarer … als hätte sich das Durcheinander ihres Lebens von einem Moment auf den nächsten geordnet und sortiert.
    Noch konnte sie es nicht wirklich fassen, geschweige denn formulieren, doch spürte sie schon, wie sich der Nebel lichtete …
    Sie tastete in ihrer rechten Hosentasche nach dem Zettel und zog ihn knisternd hervor. Dann faltete sie ihn fast ehrfurchtsvoll auseinander.
    Alles ergab einen Sinn – ihr Leben, der Unfall, ihre Rückkehr und nicht zuletzt … der Fund ihres Tagebuchs!
    Ihre Hände schlossen sich noch fester um den Zettel in ihrer Hand und wollten ihn überhaupt nicht mehr loslassen. Nie mehr. Dieser Zettel war der Beweis – jedenfalls für sie –, dass es Gott gab! Dass er sie nicht vergessen und nicht übersehen hatte.
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