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Belladonna

Belladonna

Titel: Belladonna
Autoren: Karin Slaughter
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MONTAG
EINS
    Sara Linton lehnte sich auf dem Stuhl zurück und murmelte ein leises «Ja, Mama» in den Hörer. Und fragte sich, ob wohl je der Tag käme, an dem sie zu alt wäre, von ihrer Mutter übers Knie gelegt zu werden.
    «Ja, Mama», wiederholte Sara und klopfte dabei mit ihrem Stift auf den Tisch. Sie spürte, dass sie ein heißes Gesicht bekam, und ein erdrückendes Gefühl ergriff von ihr Besitz.
    Ein leises Klopfen an der Bürotür war zu hören, gefolgt von einem zögernden «Doktor Linton?».
    Sara ließ sich die Erleichterung nicht anmerken. «Ich muss Schluss machen», sagte sie zu ihrer Mutter, die noch eine allerletzte Ermahnung losließ, bevor sie auflegte.
    Nelly Morgan schob die Tür auf und musterte Sara streng. Als Büroleiterin der Heartsdale-Kinderklinik war Nelly auch so was wie eine Sekretärin für Sara. Solange sich Sara erinnern konnte, hatte Nelly in der Klinik das Zepter geschwungen. Sogar schon damals, als Sara selbst hier Patientin gewesen war.
    Nelly sagte: «Deine Wangen glühen ja.»
    «Meine Mutter hat mich angeschrien.»
    Nelly zog eine Augenbraue in die Höhe. «Vermutlich hatte sie dazu allen Grund.»
    «Na ja», sagte Sara und hoffte, dass die Sache damit erledigt war.
    «Die Laborwerte von Jimmy Powell sind gekommen», sagte Nelly, ohne den Blick von Sara zu lassen. «Und die Post», fügte sie hinzu und ließ einen Stapel Briefe auf den Inhalt des Eingangskorbs fallen. Das Plastikgestell knickte unter dem zusätzlichen Gewicht ein.
    Sara seufzte, als sie das Fax überflog. An einem guten Tag diagnostizierte sie Ohrenentzündungen und Halsschmerzen. Heute würde sie den Eltern eines zwölfjährigen Jungen sagen müssen, dass er an akuter myeloblastischer Leukämie erkrankt war.
    «Nicht gut», vermutete Nelly. Sie arbeitete schon lange genug in der Klinik, um zu wissen, wie man einen Laborbericht las.
    «Nein», stimmte Sara zu und rieb sich die Augen. «Ganz und gar nicht.» Sie setzte sich im Stuhl zurück und fragte: «Die Powells sind in Disney World, oder?»
    «Zu seinem Geburtstag», sagte Nelly. «Sie müssten heute Abend wieder zurück sein.»
    Sara fühlte, wie tiefe Traurigkeit in ihr aufstieg. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, Nachrichten dieser Art zu überbringen.
    Nelly schlug vor: «Ich kann für sie gleich als Erstes morgen früh einen Termin machen.»
    «Danke», sagte Sara und steckte den Laborbericht in Jimmy Powells Krankenakte. Dabei warf sie einen Blick auf die Wanduhr und schnappte hörbar nach Luft. «Stimmt das etwa?», fragte sie und sah zum Vergleich auf ihre Armbanduhr. «Ich sollte Tessa schon vor einer Viertelstunde zum Lunch treffen.»
    Nelly sah auf ihre Uhr. «So spät? Es ist doch schon bald Abendbrotszeit.»
    «Anders konnte ich nicht», sagte Sara und sammelte Krankenblätter zusammen. Sie stieß gegen den Eingangskorb, der endgültig zusammenbrach, und ein Haufen Papier fiel zu Boden. «Mist», zischte Sara.
    Nelly wollte helfen, aber Sara hielt sie davon ab. Nicht nur dass sie es ungern sah, wenn andere Leute die Unordnung beseitigten, die sie angerichtet hatte; sollte Nelly es tatsächlich schaffen, auf die Knie zu sinken, käme sie zweifellos ohne intensive Hilfe nicht wieder hoch.
    «Ich hab's schon», sagte Sara zu ihr, raffte den ganzen Stapel zusammen und ließ ihn auf den Schreibtisch fallen. «War sonst noch etwas?»
    Nelly lächelte sie an. «Chief Tolliver wartet auf Leitung drei.»
    Sara lehnte sich in der Hocke zurück und verspürte eine böse Ahnung. Sie nahm in der Stadt zwei Pflichten wahr, als Kinderärztin und Coroner, und Jeffrey Tolliver, ihr Exmann, war der Polizeichef. Es gab nur zwei Gründe für ihn, Sara mitten am Tag anzurufen, und von denen war keiner sonderlich angenehm.
    Sara stand auf und griff nach dem Telefon, bereit, Nachsicht walten zu lassen. «Ich kann nur hoffen, dass jemand tot ist.»
    Jeffreys Stimme war verzerrt, und sie nahm an, dass er sein Handy benutzte. «Da muss ich dich leider enttäuschen», sagte er, und dann: «Ich häng schon zehn Minuten in der Leitung. Wenn das jetzt ein Notfall gewesen wäre?»
    Sara machte sich daran, Papiere in ihrer Aktentasche zu verstauen. Es war ungeschriebenes Klinik-Gesetz, Jeffrey stets erst durch brennende Reifen springen zu lassen, bevor man ihn mit Sara telefonieren ließ. Sie war richtig überrascht, dass Nelly daran gedacht hatte, ihr zu sagen, dass er in der Leitung war.
    «Sara?»
    Sie schaute zur Tür und murmelte: «Ich sollte längst weg
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