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Alptraumland

Alptraumland

Titel: Alptraumland
Autoren: Horst Ronald M. und Pukallus Hahn
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Tage wieder aufgefunden wurde.
    Wir nehmen an, daß Sie sich in Kürze hier in Glasgow über die Erbschaftsangelegenheit informieren wollen.
    Mit vorzüglicher Hochachtung
    James C. Robertson, Rechtsanwalt
     
    Dem Schreiben lag ein anderes bei, eines mit einem altmodischen Briefkopf, wie er um die Jahrhundertwende der Mode entsprochen hatte. Dieses Schreiben setzte mich in knappen Worten darüber in Kenntnis, mein »Bruder« Stephen Ashton sei am 2.6.1913 im Alter von achtundvierzig Jahren auf seinem Landsitz in Ashton Manor, Schottland, verstorben, und ich hätte sein Vermögen, Haus- und Grundbesitz inklusive, geerbt.
    Ich hatte zwar nichts dagegen, von einem schottischen Edelmann als Erbe eingesetzt zu werden, doch Stephen Ashton war mir gänzlich unbekannt geblieben. Freilich hatte mein Vater dann und wann einen Bruder dieses Namens erwähnt; er war mit ihm und seinen Eltern im Jahr 1880 aus dem schottischen Hochland in die Vereinigten Staaten ausgewandert.
    Mein Vater, Roderick Ashton senior, war damals zwanzig Jahre alt gewesen. Stephen, sein fünf Jahre jüngerer Bruder, hatte es an der Lower East Side New Yorks nicht lange ausgehalten, sondern riß von zu Hause aus. 1897 hatte mein Vater einen Brief von ihm aus Seattle erhalten, in dem Onkel Stephen im mitteilte, er sei in den kanadischen Norden unterwegs, um am Klondike Millionen zu machen. Das Gold läge dort nur so herum, hatte er geschrieben, man bräuchte es nur aufzuheben, und wenn mein Vater ein Kerl wäre, solle er auf der Stelle seine Habseligkeiten packen und ihm folgen. Da mein Vater inzwischen längst verheiratet war und ich seit sieben Jahren auf der Welt, hatte er den Rat seines Bruders nicht befolgt, sondern war lieber in der neuen Heimat geblieben. Ich erinnerte mich daran, daß er Stephen hin und wieder als Phantasten bezeichnet hatte, als einen Menschen, der ständig Träumen und Schäumen nachjagte und fest davon überzeugt war, daß er eines Tages ganz groß herauskommen würde. Nach dem Brief aus Seattle hatten wir nie wieder etwas von Onkel Stephen gehört, und da die vom Goldrausch erfaßten Männer im eisigen Winter von 1898 in der Wildnis des Nordwest-Territoriums wie die Fliegen starben, gingen wir davon aus, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilte. Daß es Onkel Stephen doch gelungen war, ein Vermögen zu machen, daß er anschließend, ohne sich bei seiner Familie zu melden, in die alte Heimat zurückgekehrt war, empfand ich zwar als recht mysteriös, aber noch mysteriöser fand ich es, daß die US Mail das an meinen vor sieben Jahren verstorbenen Vater gerichtete Einschreiben des Rechtsanwalts Robertson an mich ausgehändigt hatte.
    Und einen Tag später war der Traum gekommen, der mich seither fast jede Nacht aus dem Schlaf schreckte. Um mich von ihm abzulenken, dachte ich an Onkel Stephen und fragte mich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre und was ihn bewogen haben mochte, der Familie nichts von seinem Werdegang zu erzählen. Ich empfand recht zwiespältige Gefühle für ihn. Ich fragte mich zudem, was in den zwanzig Jahren, in denen der Brief in irgendeinem Aktenschrank gelegen hatte, alles geschehen sein konnte. Wer zum Beispiel hatte Onkel Stephens Landsitz in der Zwischenzeit verwaltet? Stand das Erbe überhaupt noch zur Disposition, oder erwartete mich ein Schuldenberg, wenn ich meine Bereitschaft erklärte, es anzunehmen?
    »Ich würde mir an deiner Stelle keine Gedanken machen«, hatte mein Brieffreund Howard mir geraten. »Laß dir eine Passage nach Europa reservieren und sieh dir das Schloß unverbindlich an – falls die britischen Steuergesetze noch etwas von ihm übrig gelassen haben.«
    Aber die Träume, die Träume! Sie raubten mir nachts den Schlaf und tagsüber den Verstand, den ich zum Arbeiten unbedingt brauchte.
    »Es ist ein ganz normaler Alpdruck«, hatte Howard gemeint, nachdem ich ihm davon geschrieben hatte. »Es ist doch kein Wunder, daß du aufgeregt bist. Du mußt dich erst mal an den plötzlichen Reichtum gewöhnen … Denke daran, daß er es dir ermöglicht, künftig ein Leben wie ein echter Gentleman zu führen.« Howard hatte gut reden … Ich trat an den Nachttisch und nahm mir eine Zigarette. Die Träume waren nicht das Schlimmste. Am meisten beunruhigte mich, daß ich selbst in ihnen vorkam – und zwar nicht eben in sympathischer Gestalt. Im Traum war ich ein perverses Monstrum, das sein besseres Ich aufschlitzte, um unerkannt zu bleiben.
    War ich, ohne es zu wissen, ein solcher Mensch?
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