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Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)

Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)

Titel: Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Franka Potente
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grauen Filzpantoffeln. Die Hände zittrig. Irgendwo in einem Altenheim in Arkansas. Nach dem Schlaganfall war er aus dem Haus ausgezogen. Die Schwester kümmerte sich um ihn.
    Nur selten verirrten sich Tims Gedanken dorthin. Nach dem Tod der Mutter hatte er Jasper den Rücken gekehrt.
    In Jasper war er geboren und aufgewachsen. Einige Hundert Einwohner, keine Arbeit, ein Ort zum Ersticken. Religiös, konservativ.
    Vor sieben Jahren war er einmal mit Liz durchgefahren. Sie hatten die ganze Fahrt über geschwiegen. Der Mietwagen ein rappeliger Ford. Vorbei an Häuserfronten, an denen die silberne Haut der Glaswolle zu sehen war. Ansonsten kaum sichtbare Veränderungen. Alles wie früher. Verwilderte Vorgärten, dreckige Hunde, die ziellos umherstreunten. Vom Wetter ausgeblichene Flaggen, die zerfressen im Wind flatterten.
    Später hatte Liz gescherzt: »Du hättest ein totaler Redneck werden müssen.« Dann hatten sie sich in der trostlosen Pension auf dem Queensize-Bett geliebt.
    Der Besuch im Heim am nächsten Tag war kurz gewesen. Apathisch saß der Alte da, ein Kreuzworträtsel vor sich. Die Schokolade, die Fotos vom Sohn blieben unausgepackt.
    Danach Kaffee mit seiner Schwester Agnes. Sie aßen Keylime Pie. Müde hatte Agnes im hellbraunen Twinset dagesessen. Sie war hängen geblieben in Jasper. Sie hatten sich nichts zu sagen. Tim gab ihr einen Scheck.
    »Kommt bald wieder!«, sagte Agnes zum Abschied tonlos. Man umarmte sich mit steifen Armen und klopfte sich gegenseitig auf die Schulter. Das war der letzte Besuch in Jasper gewesen.
    Einmal im Monat kam seitdem ein Brief von Agnes. Der immer gleiche Bericht. Liz hatte sie gelesen und beantwortet.
    Der Chinese grüßte ihn jetzt. Er hatte ein auffallend freundliches Gesicht. Lächelnd beobachtete er, wie Tim die Süßigkeiten betrachtete. Tim war froh, dass der Laden leer war. Ständig darauf zu achten, keine Waren zu streifen, die überlangen Arme zu verschränken, um niemanden zu berühren, war anstrengend.
    Er ließ sich Zeit. Inspizierte die Schokoriegel. Whatchamacallit hatte er als Kind gegessen. Er griff eine Handvoll. Unglaublich, dass es den Riegel noch gab. Creamsoda dazu. Hawaiian Sweetbread, gelber Teig in Plastik. Dann Rootbeer, Kartoffelchips. Bier und Scotch. Toilettenpapier, zwei Rollen. An der Kasse drei Schachteln Marlboro. Wenn er wieder anfing, dann richtig.
    Damals hatten sie beschlossen, die Gardinen rauchfrei zu halten. Nach dem Hauskauf hatten sie gemeinsam aufgehört.
    Der Chinese reichte ihm die Hand: »Shin.«
    »Freut mich.« Tim fiel auf, wie schmal und fragil er war. »Tim. Tim Wikins.«
    »Sind Sie gerade hergezogen?«
    Tim zögerte. »Ja. Und Sie? Schon lange hier?«
    Freundliches Lachen. »Bin vor vierzig Jahren aus Korea hergekommen.« Kein Chinese.
    Für einen Moment hörte er auf, die Waren in die Tüte zu packen. Der kleine Ventilator brummte. Tim spürte einen leichten Luftzug.
    »Da war die Welt noch eine andere«, fügte Shin hinzu.
    Während der Kaffee in die Kanne lief, baute Tim sein Frühstück vor sich auf. Hawaiian Sweetbread mit kaltem Bier, dazu Kaffee.
    Alfie hatte den Whatchamacallit immer in den Kaffee getaucht. Damals in Little Rock.
    Hundertvierzig Meilen von Jasper hatte Tim mit siebzehn angefangen zu leben. Er hatte sich mit Alfie eine Einzimmerwohnung geteilt. Zwei Jahre lang Matratzen auf dem Boden und einen Campingkocher. Creamsoda, Chips und Bier zum Frühstück. Freiheit.
    Alfie arbeitete immer Dienstag, Mittwoch, Donnerstag im Supermarkt zwei Straßen weiter und ließ häufig etwas mitgehen.
    Freitag bis Montag war Wochenende.
    Sie fuhren Moped. Gingen aus, knutschten mit Mädchen, hörten die Stones.
    Alfie hatte ihn »Tree« getauft. Alfie selbst war klein und hager, schwarze Locken und italienischer Einwanderercharme. Wenn er Tims Lederjacke borgte, hingen ihm die Schultern bis auf die Oberarme.
    Tim blies den Rauch in die Küche, suchte im Radio nach einem Sender und legte die nackten Füße auf den Tisch. Er erkannte den Song, drehte voll auf.
    When I jumped off, I had a bucket full of thoughts
    When I first jumped off, I held that bucket in my hand
    Ideas that would take me all around the world
    I stood and watched the smoke behind the mountain curl
    It took me a long time to get back on the train
    Er wippte mit den Zehen, öffnete eine Dose Bier und sang laut mit. Phish war immer noch gut. Von wann war der Song? 1990? Der Umzug nach Kalifornien war mehr als zehn Jahre vorher gewesen. Er war nicht
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