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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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Flüssigkeiten untersagt wurde, das Ende der Schlange erreicht war, hatte Alfred bereits seinen Gürtel ausgezogen und alle metallenen Gegenstände in die Taschen seiner Jacke gestopft. Ein dunkelhäutiger Wachmann wies die Fluggäste entsprechend ihres Geschlechts verschiedenen Schaltern zu. Sally durchschritt die Schranke, ein Signal ertönte, sie wurde gründlich abgetastet. Trotzdem war sie schneller fertig als Alfred. Er wartete neben dem Förderband, Tasche und Jacke hatte er bereits wieder an sich genommen, aber seine Wanderschuhe mussten noch durchleuchtet werden. Er stand unbeholfen da, Sally sah, dass er den Gummistrumpf wieder trug, den Strumpf, der ihr vor zwei Tagen noch als Sinnbild der Urlaubssabotage erschienen war. Jetzt empfand sie bei seinem Anblick ein leises Gefühl der Zärtlichkeit, dieser nutzlose Schutz für ein Bein auf dem unangenehmen Heimweg.
    »Ich hoffe immer noch, dass es nur ein Spuk ist«, sagte Alfred erschöpft. Er nahm die Schuhe vom Förderband, schlüpfte hinein. Er dachte einen Augenblick nach, ehe er hinzufügte:
    »Ich bin ernstlich gewarnt.«
    Dann trottete er hinter Sally zum Gate. Sie ergatterten zwei freie Plätze, gelochte Schalen, die auf einen Balken aus Stahl geschraubt waren. Neben Alfreds Sitz befand sich eine freie Ablagefläche, auf die er seine Reisetasche stellte. Er legte den Arm um die Tasche und drückte sie, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Von Zeit zu Zeit brummte er mürrische Einsilber.
    Nach einer Weile nahm er den Arm von der Tasche wieder weg.
    »Wie seltsam, dass ich nur lauter ersetzbare Dinge mit mir herumschleppe«, sagte er.
    Die ein wenig als Frage geäußerte Feststellung machte Sally betroffen. Sie dachte an das, was sie beide dargestellt hatten, als sie jung gewesen waren. Sie war Alfred gegenüber so beschützerisch gewesen, und das keineswegs, weil sie von Natur aus beschützerisch war.
    »Nimm’s dir nicht zu sehr zu Herzen«, sagte sie jetzt.
    »Na, nicht?« fragte er.
    Seine Züge durchliefen eine Reihe rascher Verwandlungen, von Gereiztheit zu Verdrossenheit zu Qual. Zu viele Dinge, von denen er befürchtete, sie verloren zu haben, drängten sich von den Rändern seiner Ängste ins Zentrum. Er fühlte sich vollkommen einsam, und diese Einsamkeit wurde nicht gelindert, als Sally sagte:
    »Jetzt brauche ich einen Kaffee.«
    Sie bot Alfred an, ihm ebenfalls einen Becher zu bringen. Oder Wasser? Er wollte weder das eine noch das andere, es störte ihn, dass Sally wegging, und es störte ihn der Grund, weshalb sie wegging. Er fand, sein Leben war nicht harmlos genug für Kaffeetrinken, er fand, wenn jemand das Opfer eines Einbruchs geworden war, hatte er mehr Aufmerksamkeit verdient. Sein Kopf war vollgestopft mit Ängsten und Mutmaßungen. In halbtaubem Zustand kommt das Gehirn auf keine guten Ideen.
    »Es gibt immer solche, die picknicken, während anderswo Katastrophen passieren.«
    Hat er das laut gesagt? Er spürte, wie ungerecht seinVorwurf war, er wusste, das Gesagte gehörte genau in die Kategorie hochtrabender Äußerungen , die Sally nicht mochte. Aber es empörte ihn so sehr, dass die Welt imstande war, einem friedlichen Menschen wie ihm mit solcher Härte zuzusetzen, dass er wie benebelt war. Außerdem hatte er im Stillen gehofft, dass sie zusammenrücken würden und Sally ihren Arm um seine Schultern legte. Bislang war nichts dergleichen passiert.
    In selbstquälerischer Verwunderung knetete Alfred seine Hände. Sally indes hatte Mühe, ihre Erwiderung in einem normalen Tonfall vorzubringen.
    »Ich kann die Reise nicht beschleunigen, indem ich aufhöre zu trinken. Ich muss trinken. Du musst auch trinken. Rück deine Pfundmünzen raus, dann bist du sie los.«
    »Jetzt soll ich es auch noch finanzieren«, sagte er mürrisch.
    Sally zog mit den Münzen ab, ein verwirrendes Gefühl blieb haften, sie war nicht verärgert, sondern irritiert, solange sie nach etwas suchte, an das Alfreds Vorwurf sie erinnerte. Etwas Ähnliches, eine ähnliche Rechtfertigung wie die, dass sie trinken musste, hatte sie schon einmal vorgebracht. Was war es? Wann? Irgendein Ereignis, das partisanenhaft in ihr hauste und im Unterirdischen sein Unwesen trieb.
    Beim Anstehen vor einer Imbissbar kam ihr seit sie weiß nicht wie langer Zeit zum ersten Mal wieder die kurze und enttäuschende Freundschaft zu einem jungen Mann aus der Nachbarschaft in den Sinn. Ihr Großvater in Wien, bei dem sie aufgewachsen war, hatte ihn gehasst. Sally war
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