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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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schließt die Augen, ein leichter Schauer überläuft sie, es kommt ihrvor, als werde die Sommerhitze das große Fenster im nächsten Moment eindrücken.
    »Was sind das für Blumen auf den Tapeten?« fragt Alfred.
    »Hyazinthen«, sagt Sally.
    Sogleich kehrt Alfred zu seiner chronischen und chronistischen Tätigkeit zurück, schreibt murmelnd einige Sätze unter dem Datum des aktuellen Tages, er ist bemüht, dem vorangegangenen Tag Zusammenhang und Bedeutung zu geben. Er rekapituliert die Merkwürdigkeiten, denen er in der Eile seines Lebensgeschäfts nicht ausreichend Aufmerksamkeit widmen konnte, er erwähnt, dass Sally mitten im Hochmoor stehen geblieben ist und gesagt hat:
    »In den Ferien wird alles ein bisschen weniger real, sogar die Zeit. Sogar mein Mann.«
    Alfred kritzelt, setzt ab. Jetzt richtet er den Blick auf Sally, die ihm den Rücken kehrt, ihre Körperhaltung, die Art, wie sie am Fenster steht, mit nichts als einem alten Hemd von ihm, das gefällt ihm. Er findet, sie ist sehr real , sehr schön, trotz der drei Kinder, die sie geboren hat, sie besitzt noch immer einen Körper, auf den sie stolz sein kann, der Rücken gerade, ihr Hintern nicht zu groß. Nur ihre Schenkel haben aufgehört, beeindruckend zu sein, die allzu eiligen Schenkel, die einen Schritt voraus sind, zu üppig und allzu strukturiert von Dellen und kleinen Adern. In den seitlichen Hemdschlitzen locken sie dennoch, diese Alfred seit dreißig Jahren vertrauten Flanken, er wäre nicht abgeneigt, jetzt mit seiner Frau zu schlafen, das käme auch seinen Aufzeichnungen zugute, seine Ansicht ist, es wäre absolut zuträglich, wenn darin mehr Sex Erwähnung fände.
    Man merkt, wir sind beide über fünfzig, aber Sally eindeutig auf der guten Seite des Jahrzehnts, ich schon eher auf der schlechten.
    Nachdem er diesen Satz nochmals gelesen hat, berührt er verstohlen seine Genitalien, lockert sie, da seine Hoden an den Schenkeln im Schweiß liegen. Weil ihm zu heiß ist, strampelt er die Decke von den Beinen. Sally schaut herüber, sie sieht, dass Alfred den Kompressionsstrumpf am rechten Unterschenkel auch in der Nacht getragen hat, er präsentiert ihr diese Nummer kombiniert mit einer weißen Unterhose, die Fußsohlen geradeaus auf Sally gerichtet, rechts der grau verschmutzte, ursprünglich hautfarbene Stoff, links die nackte, verhornte Haut des breiten Kuratorenfußes. Obwohl es immer etwas Anrührendes hat, ein verbundenes Bein zu sehen, dreht sich Sally frontal zu Alfred hin, mit dem Hintern am Fensterbrett, in herausfordernder Körperhaltung, die Arme verschränkt.
    »So sieht kein heimlicher Futurist aus«, sagt sie.
    Alfreds Miene spannt sich und erschlafft gleich wieder. Auch solche Pfeile von Seiten seiner Frau sind für ihn nichts Neues. Er lächelt gutmütig, in seiner triefäugigen Art, nimmt eine andere Stellung ein, als ob er unbequem sitze, verdreht die Augen und bringt die Beine wieder in die vorherige Position. Er presst die Lippen aufeinander, und während die Bettfedern ein singendes und zuletzt zischelndes Geräusch hören lassen, denkt er, dass es hilfreich wäre, wenn ihm jemand sagen würde, warum die Menschen in seiner Gegenwart so angriffslustig sind.
    »Was ist mit mir? Wieso denn?« fragt er.
    »Weil du schon wieder den Strumpf trägst, plus Unterhose.«
    In einem versonnenen Moment kratzt er sich mit dem Tintenroller in der linken Achselhöhle. Der Ausdruck seines Gesichts zeigt nicht Verdruss, sondern Nachdenklichkeit. Sally kennt diesen Ausdruck, da haben wir ihn, den Stempel des Tiefsinns, die Gedanken wichtig und schwer, und auch der Mann wichtig und schwer, altmodisch und bequem wie die Queen, ständig begleitet von seinen Kammerdienern: Ritus und Wiederholung.
    Sie sagt:
    »Wenn es stimmt, dass es keine Thrombose war, ist es ein Blödsinn, dass du den Strumpf auch nachts trägst und wenn du die ganze Zeit vor dem Fernseher liegst.«
    »Es ist einfach so«, versucht er zu erklären, »dass ich meinen Beinen gestern zu viel zugemutet habe.«
    »Du hast den Strumpf vorgestern getragen und vorvorgestern und am Tag davor, und so sieht er auch aus.«
    Vielleicht meint sie es nett, denkt er. Gerade eine Lehrerin hat manchmal seltsame Motive, wenn sie kritisiert, besonders eine mit rotblonden Haaren. Erst vor wenigen Tagen hat sie gesagt, der einfache Teil liegt immer hinter dir, der schwierige immer vor dir.
    Wieder schaut Alfred auf seine Frau, auf diese früher so ungezügelte, heute ernsthafte Schönheit, er
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