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Alles paletti

Titel: Alles paletti
Autoren: Assaf Gavron
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NEW YORK, FRÜHLING 1998
    Der Frühling 1998 war kein richtiger Frühling. In New York zum Beispiel schneite es am Sonntag - Izzi hatte sich mit Schlomi um sieben Uhr morgens in der Bronx an der 125. Straße, Ecke Park Avenue verabredet, und der Schnee fiel ihm aufs Gesicht, während ihm die Kälte in die Knochen drang. Am Freitag darauf hatte es dreißig Grad und Sonnenschein - Jonsy und Izzi luden riesige Bilder eines verrückten Künstlers in Brooklyn ein und schwitzten wie die Ochsen.
    Der Frühling 1998 spielte ganz besonders verrückt wegen El Niño. Tornados, heiße Winde, Schneestürme, Überschwemmungen, gnadenlose Sonne - alles in derselben Woche am gleichen Ort oder nur wenige Stunden weiter im benachbarten Bundesstaat. Trotzdem, es war Frühling, und es gab da einen Satz, der Izzi nicht aus dem Kopf ging. Er hatte ihn in einer Raststätte in Nebraska gehört, als er mit zwei großen Bechern Kaffee, einem Päckchen Sonnenblumenkerne, Hershey-Küssen und einem Schraubenzieher in der Schlange an der Kasse stand. Die Kassiererin hatte zu dem dicken Trucker vor ihm bemerkt, es sei ein wunderbarer Tag. Und der Trucker hatte geantwortet: »Der Frühling ist da, und das ist die Zeit für Veränderungen.«
     
    Beim Umziehen siehst du die Veränderungen die ganze Zeit. Du bist ein Teil davon. Du siehst Menschen im Augenblick der Veränderung, am Übergangspunkt, siehst, wie sie ein ganzes
Leben zusammenpacken, das sie an einem Ort hatten, mit Arbeit, Freunden, Nachbarn und all dem, was ihnen zwischen diesen Wänden und in dieser Luft passiert ist, und du bringst sie an einen anderen Ort, wo alles neu und unbekannt, aufregend und beängstigend ist. Oder umgekehrt - du bringst sie zurück zu ihrem Zuhause, worauf sie seit Jahren gewartet haben. Und manchmal haben sie genug, manchmal haben sie alles verloren oder eine Menge verdient, und es ist nicht nur der Ort und die Luft und das Büro, was sie wechseln, es ist alles - die Art, die Stellung, die Weltanschauung, das Leben.
    Und du bist dort, kriegst diesen Augenblick von innen mit. Du betrittst das Leben der Leute durch die Hintertür, für einen oder mehrere Tage. Du kriechst ihnen in die Unterwäsche, packst ihnen die Bettwäsche ein, und am Ende des Tages bist du mit ihnen verbunden.
    Du betrittst Orte, die ihre Freunde nie gesehen haben, auch ihre Kinder nicht, niemand von der Familie. Private Räume, intime Dinge, die sie keinem anderen zeigen. Du wirst zum Freund für einen Tag, zum Beobachter von außen, der alles sieht und hört - die kleinen Streitigkeiten zwischen Mann und Frau, die besonderen Blicke zwischen dem Mann und der Schwester seiner Frau, die kleinen Ängste, die ihr Herz bewegen. Du bist ein Teil des neuen Kapitels, des Abenteuers, du bist der Radar, der die Empfindungen registriert, der Innengestalter, der für die neue Ordnung der Möbel verantwortlich ist, der Vermittler, der bei der ersten Berührung mit den Nachbarn hilft. Als Umzugshelfer hast du eine Menge Aufgaben. Du beruhigst die Leute, lachst mit ihnen, tröstest sie, hörst dir ihre Geschichten über Vietnam und New York an, über ihre Großeltern, ihre Drogen, ihre Kinder und die Länder, aus denen sie zurückgekommen sind, und über die Arbeit, die
sie demnächst anfangen. Du schaust dir ihre Bilder auf dem Höhepunkt ihres Lebens vor Jahrzehnten an, streichelst ihre Tiere. Du sagst zu ihnen: »Der Frühling ist da, und das ist die Zeit für Veränderungen.« Du sagst: »Dieser Sessel? Hinreißend.« Du sagst: »Für eine solche Wohnung würde ich Los Angeles auch verlassen.« Einen oder mehrere Tage lang bist du das Kind, das vor zwanzig Jahren den Bezug zu ihnen verloren hat, du bist der Mann, der das Haus verlassen hat. Das alles machst du hauptsächlich wegen des Trinkgelds, stimmt, aber nicht nur. Auch wegen der Erfahrung, Amerikas weichen Bauch von innen, das zerbrechliche Leben der Menschen zu sehen.
    Die drei traumatischsten Dinge, die Leuten passieren, sind der Verlust ihrer Kinder, Scheidung und Umzug. Schlimmer als Unfälle oder Krankheiten. Das ist nachgewiesen. Beim Tod eines Kindes gibt es Familie und Freunde, die kommen und trösten und die Trauernden nicht allein lassen; bei der Scheidung hat jeder seine eigene Seite, die Familie, den Anwalt; und beim Umzug, da gibt es dich, den Umzugshelfer, den Mover. Deine Jeans mögen dreckig sein, vielleicht warst du drei Tage am Stück mit den Möbeln unterwegs, hast dich nicht geduscht, nicht rasiert. Vielleicht bist du ein
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