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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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befürchtet, eheliche Berührungen seinerseits würden im Moment nicht erwidert. Seine Hände zittern, es durchläuft ihn, dann kommt ihm wieder sein Bein in den Sinn, sein besonderer Schützling, der Anblick macht ihn so melancholisch, dass er den Kopf schüttelt, als verblüffe der Strumpf auch ihn,diese künstliche, für keine Gänsehaut zu gewinnende Außenseite.
    »Der Strumpf ist angenehm«, sagt er kleinlaut. »Außerdem bin ich es leid, die Krampfadern zu sehen.«
    »Und ich bin es leid, den Strumpf zu sehen«, gibt Sally zurück. »Er bedeutet alt und krank und irritiert mich. Der Besuch bei Mama hat mir gereicht. Mein Bedarf an körperlichem Verfall ist für den Rest der Ferien gedeckt.«
    »Wie du redest!« empört sich Alfred. »Man fühlt sich wie ein Invalide.«
    »Ich fühl’ mich wie neben einem Invaliden«, sagt sie.
    »Wäre das ein Problem?«
    »Nicht wenn du tatsächlich invalid wärst«, gibt sie zur Antwort.
    Alfred philosophiert darüber, dass im Englischen das Wort » invalid « auf der einen Seite den Versehrten meint, andererseits wertlos bedeutet, minderwertig . Da Sally diejenige ist, die Englisch studiert hat, lässt sie ihn reden. Und während Alfred so vor sich hin schwafelt, versucht sie, alle Erinnerungen an den kürzlichen Besuch in dem Pflegeheim bei London, in dem ihre Mutter untergebracht ist, zu verbannen, das hervorstehende Brustbein, die Medikamentenschachteln, die lähmende Atmosphäre. Eindringlich sagt sie sich, ich bin in den Ferien, ich brauche meine Ferien zur Erholung, ich will Dinge erleben, die mich fürs kommende Schuljahr aufbauen.
    Durch das einfache, in sechzehn Segmente unterteilte Fenster dringen Stimmen. Sally ist dankbar für die Ablenkung und schaut hinaus. Auf der Straße kommen drei junge Frauen heran, optisch sind sie auf den ersten Blick verschieden,doch mit demselben Gang und mit demselben trüben Ausdruck in den Gesichtern, wie Mondkälber. Die Frau in der Mitte trägt in reflektierenden Lackfarben den Union Jack auf der Brust. Sally fragt sich, was sie über Engländerinnen weiß, nicht viel, obwohl sie selber zur Hälfte Engländerin ist. Pünktlich sollen sie sein, das bezweifelt sie, und kalt wird ihnen nie, sie stehen auch im Winter in knapper Kleidung und ohne Strumpfhosen vor Tanzlokalen Schlange. Und angeblich weinen auf der Insel die Männer mehr als die Frauen, so gesehen ist an Alfred ein Engländer verlorengegangen, dafür spricht auch seine Neigung, im Zweifelsfall lieber etwas Originelles zu sagen als etwas Kluges.
    »Eigentlich korrespondieren meine Krampfadern ganz hübsch mit den Tapetenmotiven«, sagt er.
    »Ein wenig überladen«, entgegnet Sally spöttisch. »Du solltest sie dir operieren lassen.«
    Alfred gibt keine Antwort, er ist in die Betrachtung der Mysterien versunken, die rechts vom Strumpf verdeckt, am linken Bein jedoch sichtbar sind, wenn auch weniger ausgeprägt. Es ist, als wolle er seinen Varizen sagen: Seht her, was für einen Ärger ihr mir macht! So sinnlos! – Er kratzt sich dort, wo der einschnürende Bund des Strumpfes ansetzt. Mit den Fingerspitzen ertastet er Blutbahnen, die reliefartig aufgeworfen sind, ausgebuchtet, urwüchsige Landschaften, wo ein strenges Kanalwesen zweckmäßiger wäre zum Transport der trägen, trübroten Masse Flüssigkeit.
    »Du sollst dich operieren lassen, hörst du!«
    »Es sind doch nur Krampf äderchen «, gibt er zur Antwort.
    Dann zieht er seine zottigen Brauen bedauernd in die Höhe, rums, fließt das Blut, so stellt er es sich vor, von einem Schlagloch ins andere, ein Wunder, dass sein Blut nicht schäumt vor lauter Holterdiepolter.
    Um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, sagt er:
    »Vor dreihundert Jahren hat man Transfusionen zum Ausgleich zwischen Eheleuten empfohlen, dem melancholischen Mann hat man Blut der lebensfrohen Gattin verabreicht, nur dass die Patienten die Behandlung selten überlebt haben, das erklärt, warum die Prozedur nie recht in Mode gekommen ist. Erst um 1900 hat Landsteiner in Wien die Blutgruppen entdeckt.«
    Diese Art von sinnlosem Wissen flößt Alfred Vertrauen ein. Angeregt widmet er sich wieder seinem Tagebuch, um ausschweifend und langatmig festzuhalten, was er gerade gesagt hat. Er ist von der Sache völlig absorbiert, vergisst nicht, das Kälberblut zu erwähnen, das bei rabiaten Menschen zum Einsatz kam, er teilt seine eigene und Sallys Blutgruppe mit, verweilt bei allerlei Assoziationen und lacht in sich hinein, dass die geräumige
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