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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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damals achtzehn, sie wollte duschen, da sagte der Großvater:
    »Du bist wohl wieder so geil, dass du dich duschen musst.«
    Antwort:
    »Ich muss mich einmal wöchentlich waschen, auch ohne jede Geilheit.«
    Weil ihr vor Zorn die Tränen in die Augen schossen, sagte der Großvater, was er oft gesagt hatte, als Sally ein Kind gewesen war, sehr oft, aber diesmal mit einem bösen Unterton:
    »Das Feuchte ist offenbar dein britisches Erbe.«
    Sally gab den Kontakt zu dem jungen Mann auf, sie mochte sich die Bemerkungen über ihr britisches Erbe in diesem Zusammenhang nicht anhören. Sie hatte schon genug zu kämpfen, sie hatte sogar mit ihrem Vornamen zu kämpfen, weil ihre Großeltern fanden, ihr Vorname allein beweise die Unreife der nach England ausgewanderten Tochter.
    Zwei Jahre später bot sich Sally die Möglichkeit, für einige Monate nach Kairo zu gehen, als Schreibkraft am Kulturinstitut. Sie dachte, großartig, dort komme ich mit der Welt in Berührung.
    In Kairo traf sie Alfred. Es ist immer Zufall, wenn zwei sich verlieben, erst recht bei jungen Menschen, die von einer Welle gesellschaftlicher Veränderungen in den Orient gespült werden, ein junger Ethnologe und ein Familienflüchtling. – Für Sally begann damals ein neues Leben. Lange unterdrückte Wünsche gingen jetzt in Erfüllung, Abenteuer, Reisen, Leichtsinn. Die klar linierte Zukunft, die ihr der Großvater vorgezeichnet hatte, war mit einem Schlag vom Tisch, obwohl sich Sally ihre ganze Kindheit hindurch andiesen Entwurf gebunden gefühlt hatte. Strikteste Moralvorstellungen, nur ein einziger Mann im Leben, Treue, kein Wortbruch, keine Negermusik , nur klassische, und auch beim Lesen nur die Klassiker in den Ausgaben des Großvaters. Noch immer, wenn Sally in der Auslage eines Antiquars eine dieser Klassikerausgaben sah, bekam sie Zustände und musste rasch weitergehen. Simone de Beauvoir hatte sie nur heimlich gelesen, nachts unter der Bettdecke mit Taschenlampe, wegen der beengten Wohnverhältnisse. Vielleicht war sie deshalb an Klassikern und klassischer Musik bis heute nicht so interessiert wie Alfred, der in seiner Jugend Zugang zu allem hatte, was aktuell war. Ihr Großvater hatte sie ständig kontrolliert und mit seiner Eifersucht verfolgt. Wenn Sally nur mit einem Mitschüler oder Kommilitonen telefoniert hatte, war ihm das widerwärtig gewesen. Das Telefon war auf seinem Schreibtisch gestanden, man kann sich seine zynischen Bemerkungen nicht vorstellen. Sallys Reaktion den Bekannten gegenüber war daher meistens:
    »Nein.«
    In Kairo war die Zukunft plötzlich unvorhersehbar. Und weil ihr diese Unvorhersehbarkeit das Gefühl vermittelte, die Zukunft werde endlos sein oder wenigstens länger dauern als das zunächst Vorherbestimmte, war Sally glücklich. Ein muffiges Leben als Hausfrau und Mutter unter dem Begriff Zukunft zusammenzufassen, war ihr schon mit vierzehn absurd erschienen. Standen Zukunft und Stagnation nicht in unversöhnlichem Widerspruch? Durfte es nicht etwas Lebendigeres sein? Dank Alfred konnte sie in Kairo bleiben und dort vier Semester studieren. Ihre Sucht, alles zu sehen und kennenzulernen, war so manischgroß, dieser gewaltige Hunger, den sie spätestens seit ihrem zwölften Lebensjahr verspürt hatte, dass keine Gefahr sie abschrecken konnte. Sie kletterte auf die Mykenos-Pyramide, während die vom Ramadan erschöpften Wächter dem Sonnenuntergang entgegenschnarchten. Sie lernte reiten und war nachts in der Wüste unterwegs, wo sie um ein Haar entführt worden wäre. Mit derselben Leichtfertigkeit ging sie schnorcheln und tauchen. Kairo war für sie die Rettung.
    Als sie in Ägypten eintraf, war sie zwanzig, zwei Jahre jünger als Emma jetzt und sechs Jahre jünger als Alice. Am Flughafen von Kairo hatte sie ihre blaue Jacke getragen. – Normalerweise kamen ihr solche Dinge nur im Traum oder in den Ferien, aber erst, wenn die Ferien zu einer leeren Fläche geworden waren, auf der alles mögliche erschien. Dinge wurden dann wieder wichtig, die fast ein Jahr lang auf ihre Chance gewartet hatten, still, geduldig, wie jetzt. Sally fühlte sich für einige Momente gut, sie staunte, wie so oft, über das Schöne, das ihr das Leben geschenkt hatte. Wäre der Einbruch nicht gewesen, hätte sie jetzt anfangen können, die Ferien zu genießen.
    Bedrückt leerte sie ihren Kaffeebecher, und mit dem Wasser, das sie für Alfred gekauft hatte, ging sie zurück zum Gate.
    Am Gate wurden zwei alte Menschen in Rollstühlen
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