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Der Schimmer des Ledger Kale

Der Schimmer des Ledger Kale

Titel: Der Schimmer des Ledger Kale
Autoren: Ingrid Law
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    Mom und Dad hatten bereits vor Monaten von der Hochzeit auf Onkel Autrys Ranch erfahren. Aber da sie nur zehn Tage nach meinem dreizehnten Geburtstag gefeiert werden sollte, zögerten meine Eltern die Zu- oder Absage so lange wie möglich hinaus. Wir mussten abwarten, bis mein Geburtstag vorbei war. Wir mussten erst sehen, ob irgendetwas explodierte, in Flammen aufging oder überschwemmt wurde, bevor wir in unserem Minivan die lange Reise durch vier Bundesstaaten antraten. In meiner Familie waren dreizehnte Geburtstage wie Zeitbomben, nur ohne brennende Zündschnur oder piependen Countdown, der einem verriet, wann man besser Ohrstöpsel einsetzen, in Deckung gehen und sich auf etwas gefasst machen oder schleunigst Reißaus nehmen sollte.
    Ich wusste schon seit Jahren, dass ich etwas in mir hatte, in Herz und Hirn und Ohren und Poren, das nur darauf wartete, mich irgendwann sonderbar hoch zehn zu machen. An meinem dreizehnten Geburtstag würde eine geheimnisvolle, von meinen Vorfahren ererbte Macht wie der Blitz in mich hineinfahren und mir mein ganz spezielles verrücktes Talent verleihen. Meinen ganz speziellen Schimmer . Und mich in einen ebenso großen Sonderling verwandeln, wie es alle in meiner Familie waren.
    Die Familie meiner Mutter war schon immer mehr als ein bisschen anders gewesen. Ich bezweifle, dass es viele Jungs gibt, die eine zeitreisende Großtante haben, einen Opa, der aus flunderflachem Land Berge und Täler formt, und Cousins, die elektrisch geladen sind, Gedanken lesen oder sich – Simsalabim!  – in Luft auflösen können. Ich hatte sogar einen Großonkel, der Hagelkörner spuckte wie Melonenkerne und Wasser in Dampf vergurgeln und zu seinen Ohren wieder herausblasen konnte. Großonkel Ferris wiederum hatte der Schimmer an seinem dreizehnten Geburtstag im Klohäuschen überrascht – mit einem plötzlich einsetzenden, sonnenhellen Schneesturm, der das kleine Häuschen wie eine überladene Kühlbox umkippte und mit Ferris darin den Hügel hinunterrollen ließ.
    Was mich betraf, so war ich mir sicher gewesen, dass mein Geburtstag es besser mit mir meinen würde – dass ich den perfekten Genmix besaß, um schneller zu werden als der Schall. Im Unterschied zu Mom war Dad ganz normal, aber selbst ohne Schimmer gehörte er zu den besten Läufern von Vanderburgh County. Also war es doch praktisch unausweichlich, dass ich der schnellste Junge im Leichtathletik-Team meiner Schule werden würde. Ja, der schnellste Junge der Welt .
    Aber nichts lief, wie ich erhofft hatte.
    Zum dreizehnten Geburtstag bekam ich keine größeren, leistungsfähigeren, stärkeren Muskeln, mit denen ich plötzlich Lichtgeschwindigkeit erreichte. Auch die Fähigkeit, in der Gluthitze des Sommers Schneestürme zu entfesseln, wurde mir nicht zuteil. Aber es war keineswegs so, dass ich leer ausgegangen wäre.
    Ihr Uhren und Scheibenwischer überall, nehmt euch in Acht! Ich konnte Sachen zerstören, ohne sie auch nur zu berühren, und zerlegte kleine Gegenstände im Handumdrehen in ihre Bestandteile: einen Lichtschalter hier, einen Türknauf da, die Fernbedienung fürs Garagentor, Dosenöffner, Dads Stoppuhr und den elektrischen Nasenhaartrimmer noch dazu. Nach den ersten Vorfällen schob ich alles, was ich nicht selbst wieder hinbekam, unter mein Bett. Mom und Dad sollten nicht erfahren, wie viel ich demolierte. Ich sah meine Zukunft schon genau vor mir: kein Training mehr mit Dad für den gemeinsamen Halbmarathon im Herbst, kein Leichtathletik-Team mehr, keine Schule, keine Freunde. Anstatt die Jungs in der Cafeteria mit geriffelten Gurkenscheiben zu bewerfen, würde ich zu Hause sitzen und in Gurkengläsern Moos züchten wie meine Beaumont-Cousins. Wenn ich nämlich Josh und Ryan und Brody Sandoval mit Deckenpaneelen oder Tischbeschlägen traf statt mit einer Ladung Baby-Essiggurken, dann würden Josh und Ryan das vielleicht noch mit einem Lachen abtun; aber Brody, das Großmaul, erzählte es garantiert überall herum – und das würde zu Hause gar nicht gut ankommen.
    Denn unsere Familienregel lautete: Mund halten . Niemand ging das Risiko ein, das Familiengeheimnis zu verraten, es sei denn, er hatte keine andere Wahl. Wir konnten ja unmöglich abschätzen, was passieren würde, wenn die Leute herausfanden, dass wir nicht normal waren. Die Netteren würden uns vielleicht wegen unserer Fähigkeiten anheuern wollen. Die weniger Netten würden uns womöglich in eine Freakshow stecken oder einsperren, um uns zu
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