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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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der Tasche, es war kurz nach halb acht, sie stellte die Uhr eine Stunde vor, es war, als bringe diese Maßnahme den Moment der Heimkehr näher. In drei Stunden würden sie in Wien sein, Umsteigen in Düsseldorf. Sally schickte eine SMS an Nadja: Ankunft um halb zwölf, wir nehmen ein Taxi . Dann schaltete sie ihr Telefon aus. Kurz darauf ruckte das Flugzeug an, es setzte rückwärts raus und fuhr rangierend in Richtung Startbahn.
    Sally blickte hinaus auf das Gewirr aus gelben Markierungen. Das Flugzeug blieb für einige Augenblicke stehen, dann erbebte es, nahm rasch Fahrt auf, mit einem Geräusch ähnlich dem der Espressomaschine zu Hause. Seltsamer Gedanke. Aber nicht seltsamer als andere Gedanken. Alfreds wundgescheuertes Gehirn erinnerte ihn an eine Tante, die mit ihnen im Elternhaus gewohnt hatte. Wenn Alfred mit dem Moped weggefahren war, hatte sie ihn regelmäßig vom Fenster aus mit Weihwasser besprengt gegen die Unbill der Welt.
    Hoffentlich ist die Espressomaschine noch da, dachte Sally.
    Als das Vibrieren der Maschine zunahm und man glauben konnte, das Flugzeug befinde sich kurz vor dem Auseinanderfallen, erwies sich die Luft mit einmal als tragfähig für die kleinen Flügel, erstaunlicherweise, und das Flugzeug stieß über einige Puppenhausreihen hinweg zum Himmel empor, in Richtung der tiefstehenden Sonne. Im Abdrehen durchkreuzte es eine Wolkengruppe, schoss wieder ins Licht und setzte dort oben den Weg fort in die Endlichkeit des Tages hinein.
    »Ziemliches Pech, was?« sagte Sally.
    »Ich habe es immer befürchtet« antwortete Alfred.
    »Befürchtet habe ich es auch schon oft«, sagte sie. »Aber das tut vermutlich jeder.«
    »Dann frage ich mich, warum wir nicht zu Hause bleiben?« sagte er. »Warum schaffen wir uns all die vielen Dinge an, wenn wir nicht imstande sind, zu Hause zu bleiben?«
    »Weil Dinge nicht alles sind«, sagte sie.
    »Warum also?« fragte er verzweifelt.
    Aber das Gespräch blieb einfach stecken.
    Wegen der steigenden Thrombosegefahr in der trockenen Flugzeugluft begann Alfred seine Wadenmuskulatur in Bewegung zu halten. Er wechselte rhythmisch zwischen Anspannen und Lockern, so wie es ihm der Arzt empfohlen hatte, damit das Blut aus den Krampfadern besser abfloss. Sally beobachtete ihn für einige Momente, sie fragte ihn, ob mit ihm alles in Ordnung sei, er bejahte. Also wandte sie sich ab und schaute zum Fenster hinaus.
    Unter ihr lag, so weit man sah, die Erde, die sie an den Vortagen durchwandert hatten. Aus einer Höhe von 30000 Fuß war der Anblick fremd, das parzellierte Land, das mit seinen vielen Feldsteinmauern beim Wandern schön gewesen war, glich von hier oben einem räudigen Narrenpelz. Und das Leben darin war unsichtbar wie Flöhe.
    Und als sich das Licht schon ein wenig rötete, eine halbe Stunde später, sah Sally zum ersten Mal in ihrem Leben einen Offshore-Park mit Windkraftanlagen. Die Windräder waren in geometrischer Ordnung ins Blau des Meeres gestellt, kleine weiße Kreuze, die im doppelten Dutzend einem Soldatenfriedhof nicht ganz unähnlich waren. Sally vermittelten sie ein Gefühl der Gleichmut. Was kümmerten die Windräder Sallys Verluste.
    Seufzend lehnte sie sich zurück. Sie schloss die Augen. Für einige Augenblicke fühlte sie sich geborgen im mahlenden Rumoren der Turbinen. Und auch Alfred schien jetzt ein wenig beruhigt. Er trank die Wasserflasche, die Sallyihm gebracht hatte, zu zwei Dritteln leer, dann offerierte er Sally den Rest.
    Es war ein schöner Moment gegenseitigen Kümmerns. Sally spürte, dass die Feindseligkeit, die von der schlechten Nachricht angefacht worden war, jetzt wieder abklang. Ihre Ellbogen berührten einander.

 
    3
     
    Es war das einzige Haus, in dem alle Lichter brannten, eins dieser langweiligen, weiß verputzten Ziegelhäuser mit den Fenstern genau dort, wo ein Kind mit Sinn für Symmetrie seine Rechtecke in eine Zeichnung malen würde. Während der Taxifahrer das Gepäck auslud, blickte Sally die Straße hinunter, die Nacht war sanft mit einer warmen Luftströmung von Ungarn her. Die Nachbarhäuser standen weitgehend finster, nur manche, im Einflussbereich der städtischen Laternen, waren überzogen von einem schwachen Schein. Haus neben Haus, Korpus neben Korpus, lauter solide Gebäude, in denen Menschen glücklich sein konnten. Und die Bewohner schliefen in ihren Betten, müde und unbedeutend, zwischen ihren Besitztümern.
    Gegen diesen scheinbaren Frieden protestierte nur das voll beleuchtete Haus mit der
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