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Drift

Drift

Titel: Drift
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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|5| CAFÉ
    »Du wirst dir eine Kugel in den Kopf jagen«, sagte sie, und Martin befürchtete, dass sie dieses Mal recht haben könnte.
    Er saß in einem Café nahe Helenas Wohnung und zeichnete Quader und Würfel in sein Notizbuch, große und kleine, aufeinander getürmte und ineinander verschachtelte. Leere Hüllen, dachte er; schreib deinen Namen hinein und es ändert nichts.
    Vom Elan, mit dem er seine morgendliche Routine erledigt und den Weg ins Café gefunden hatte, war nach einer halben Stunde vergeblichen Wartens nichts mehr übrig, und die dünne, fiese Stimme in seinem Kopf machte die Sache nicht besser.
    »Tick-tack, tick-tack«, quengelte sie jetzt, nachdem sie Martin einen Waschlappen geschimpft, an seinen Revolver erinnert und dazu aufgefordert hatte, ein Mann zu sein und das Ding endlich zu benutzen.
    Ein Bier, fand er, müsste ihr das Maul stopfen.
    Auf jeden Fall würde es seine Nerven beruhigen.
    Er hob den Kopf und suchte nach dem Kellner, aber sein Blick fiel auf die zwei Teeny-Mädchen am Nebentisch, was seine Stimmung vollends ruinierte; aus der Neugierde und Bewunderung, die sie anfangs für ihn gezeigt hatten, war zunächst Langeweile, dann Mitleid und schließlich Desinteresse geworden.
    Ganz wie bei Helena.
    »Ein Bier, bitte!«, rief er dem Kellner nach und dieser nickte, ohne sich umzudrehen, während er der etwa sechzigjährigen, eleganten und immer noch schönen Frau, die Martin zwei Tische entfernt gegenübersaß, ein Stück Quarktorte brachte.
    Auch der Ausdruck der älteren Dame hatte sich verändert und das lebendige Funkeln in ihren Augen war Traurigkeit gewichen. Wie hatte sie ihn angelächelt, als er seinen Tisch in Beschlag nahm und seine Utensilien darauf verteilte, konzentriert und überlegt, Diktafon, |6| Stifte und sein geliebtes Notizbuch – ein Künstler, musste sie gedacht haben, ein Schriftsteller. Oder ein Journalist? Für wen er wohl schreibt? Für eine der großen Zeitungen vielleicht. Und Martin hatte zurückgelächelt und genickt, um zu bestätigen, dass sie den richtigen Eindruck von ihm hatte und er tatsächlich ein Künstler war – ein Künstler, im Begriff, ein äußerst wichtiges Interview zu führen.
     
    Ein Interview, das er zunächst mit einem Bier, dann mit einem zweiten und einem Schnaps und zu guter Letzt mit einem Liter Rotwein begrub. Es wurde Mittag, und Martin war betrunken.
    Das Lokal füllte sich mit lauten, hungrigen Menschen, und Martin zahlte, packte sein Zeug und floh. Er konnte keine zufriedenen Gesichter ertragen, keine Gespräche am Nebentisch, kein Lächeln.
    Mit weichen Knien und einem vom Gewicht seiner Tasche und seines Lebens gekrümmten Rücken steuerte er auf den Ausgang zu, weg von all den Leuten und zurück in Richtung Bett, weg von einem weiteren gebrochenen Versprechen und dem erneuten Beweis für seine an Dummheit grenzende Naivität.
    Mit einem Grunzen warf er sich Schulter voran gegen die Tür, die viel leichter als erwartet nachgab, und fiel Gesicht voran zu Boden. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit dazu imstande war aufzusehen, bückte sich eine unscharfe Gestalt über ihn.
    »Jesus, Martin!«, sagte sie. »Bist du in Ordnung?«
    Es war Julien. Martins Interview. Er hielt ihm die Hand hin und sagte: »Na komm, steh auf! Ich weiß da eine gemütliche Kneipe.«
    Martin rappelte sich auf, torkelte durch ein paar Gassen und in ein dunkles Lokal hinein, welches er von Sauftouren mit Kollegen gut kannte. Er wählte die am weitesten vom Eingang entfernte Sitzecke, ein Séparée, das seit der Umwandlung des ehemaligen Stripclubs in eine Szenebar seinen Charakter im großen und ganzen beibehalten hatte, und ließ sich seufzend ins weiche, plüschrote Sitzpolster plumpsen.
    |7| Erschlagen wartete er im schummrigen Licht auf die zwei Tassen Kaffee, die die hauptsächlich aus Knochen und tätowierter Haut bestehende Kellnerin mit einem verständnisvollen Lächeln hinstellte, positionierte das Diktiergerät in der Mitte des Tisches und nahm einen Schluck ungesüßten Kaffee.
    »Na dann los«, sagte er und drückte die Aufnahmetaste.

|8| SENJ
    Man ist neunzehn und adoleszent über beide Ohren und man rebelliert gegen alles und jeden und dröhnt sich zu, wann immer Zeit und Geld es erlauben, und da geht der Krieg los in dem Land, in das man zu gehören glaubt, dem Land, in dem die Eltern geboren und aufgewachsen sind und in, an, bei dem es ein Meer gibt, zwar kennt man das Land nur aus dem Urlaub, aber man entscheidet sich unter den
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