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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Konnte man einem solchen Menschen Glauben schenken?
    Und das Baby? Meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter? Das war ein schwierigeres Problem, denn es ist relativ leicht zu verstehen, dass ein Leben im Fluss endet - aber dass ein Leben im Fluss beginnt?
    Harry V., der Schtetl-Perverse und örtliche Meister-Logiker -der seit so vielen Jahren und mit so wenig Erfolg, wie man sich nur vorstellen kann, an seinem Opus magnum mit dem Titel »Der Herrscher der himmlischen Winden« gearbeitet hatte, das, wie er verhieß, den unwiderleglichsten logischen Beweis enthielt, dass Gott den unkritisch Liebenden unkritisch liebt -, präsentierte wortreich die These, es müsse auf dem verhängnisvollen Wagen noch jemanden gegeben haben: Trachims Frau. Vielleicht, argumentierte Harry, sei ihre Fruchtblase geplatzt, als die beiden auf einer Wiese zwischen zwei Schtetln gefüllte Eier gegessen hätten, und vielleicht habe Trachim das Pferd zu gefährlicher Geschwindigkeit angetrieben, um zu einem Arzt zu kommen, bevor das Kind der Mutter entschlüpfte wie eine zappelnde Flunder dem Griff des Fischers. Als die Wellen der Wehen über ihrem Kopf zusammenschlagen seien, habe Trachim sich zu seiner Frau umgedreht und vielleicht ihr zartes Gesicht mit der schwieligen Hand gestreichelt, vielleicht den Blick von der zerfurchten Straße abgewandt und vielleicht den Wagen versehentlich in den Fluss gelenkt. Vielleicht sei der Wagen umgestürzt und habe die beiden unter sich begraben, und vielleicht sei das Kind zwischen dem letzten Atemzug der Mutter und dem letzten Befreiungsversuch des Vaters geboren worden. Vielleicht. Aber nicht einmal Harry konnte das Fehlen der Nabelschnur erklären.
    Die Schlote von Ardischt - jene Vereinigung rauchender Handwerker in Rowno, die so viel rauchten, dass sie sogar rauchten, wenn sie nicht rauchten, und aufgrund einer Schtetl-Proklamation gehalten waren, als Dachdecker und Schornsteinfeger zu arbeiten - glaubten, meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter sei der wiedergeborene Trachim. Als sein erschlaffender Körper vor dem Hüter des herrlichen und dornenbewehrten Himmelstors erschienen sei und man über ihn zu Gericht gesessen habe, sei etwas schiefgegangen. Es habe noch etwas Unerledigtes gegeben. Seine Seele sei nicht bereit gewesen, ins Himmelreich einzugehen, und man habe sie zurückgeschickt und ihr Gelegenheit gegeben, ein Unrecht, das die vorangegangene Generation angerichtet habe, wieder gutzumachen. Selbstverständlich ergibt das keinen Sinn. Aber was ergibt schon einen Sinn?
    Dem Hochgeachteten Rabbi war es mehr um die Zukunft als um die Vergangenheit des Kindes zu tun, und daher äußerte er weder gegenüber den Bewohnern des Schtetls noch im »Buch der Begebenheiten« eine offizielle Meinung zur Herkunft des Mädchens, sondern übernahm bis zur endgültigen Entscheidung, in wessen Haus es aufwachsen sollte, die Verantwortung für die Kleine. Er brachte sie in die Aufrechte Synagoge - denn nicht einmal ein Baby, so schwor er, sollte einen Fuß in die Wankelnde Synagoge setzen (wo immer die sich auch gerade befand) - und bereitete ihr eine behelfsmäßige Wiege im Thoraschrein, während die Männer in den langen schwarzen Gewändern lauthals Gebete intonierten. HEILIG, HEILIG, HEILIG IST DER HERR DER HIMMLISCHEN HEERSCHAREN! DIE GANZE WELT IST ERFÜLLT VON SEINER HERRLICHKEIT!
    Seit mehr als zweihundert Jahren schrien die Gläubigen, die in die Aufrechte Synagoge gingen, ihre Gebete - seit jenem Tag, da der Ehrwürdige Rabbi erklärt hatte, dass unsere Gebete nichts anderes sind als die Hilfeschreie Ertrinkender, die um Rettung aus dem tiefen Meer der Spiritualität flehen. UND WENN UNSERE NOT SO GROSS IST, sagte er (er begann seine Sätze stets mit dem Wort »und«, als wären sie eine logische Fortsetzung seiner innersten Gedanken), SOLLTEN WIR DANN NICHT ENTSPRECHEND HANDELN? UND SOLLTEN WIR NICHT SCHREIEN WIE VERZWEIFELTE? Und so schrien sie denn, seit nunmehr über zweihundert Jahren. Und sie schrien auch jetzt, sodass das Baby kein Auge zutun konnte, und hingen - in der einen Hand das Gebetbuch, in der anderen das Seil - an den Flaschenzügen, die an ihren Gürteln befestigt waren, und die Kronen ihrer schwarzen Hüte streiften die Decke. UND WENN WIR DANACH STREBEN, GOTT NÄHER ZU SEIN, hatte der Ehrwürdige Rabbi geklärt, SOLLTEN WIR DANN NICHT ENTSPRECHEND HANDELN? UND SOLLTEN WIR NICHT ETWAS TUN, UM IHM NÄHER ZU SEIN? Das klang vernünftig. Am Vorabend von Jom Kippur, dem heiligsten Feiertag, kroch
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