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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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dem es darum ging, Trachim zu »finden«. Die ausgelobte Belohnung wurde allerdings bereits 1793 per Proklamation zurückgezogen - Menasche hatte darauf hingewiesen, ein menschlicher Leichnam beginne nach zwei Jahren im Wasser zu zerfallen, weswegen jede weitere Suche nicht nur sinnlos sei, sondern auch zu ziemlich abstoßenden Funden oder, schlimmer noch, zu mehrfacher Zahlung der Belohnung führen könne - , und so wurde aus dem Wettstreit eine Art Fest, für das Generationen der cholerischen Bäckerfamilie P. besondere Pasteten buken und die Mädchen des Schtetls sich als Zwillinge verkleideten, mit wollenen Kniehosen, deren Beine mit Stoffbändern zugebunden wurden, und Leinenblusen mit blau gesäumten breiten Kragen. Männer kamen von weit her, um nach den Baumwollsäcken zu tauchen, die von der Festkönigin in den Brod geworfen wurden und alle bis auf einen - den »goldenen Sack« - mit Erde gefüllt waren.
    Es gab Leute, die glaubten, dass Trachim nie gefunden werden und der Fluss genug losen Sand über ihn schwemmen würde, um ihn ordentlich zu beerdigen. Diese Leute legten bei ihrer monatlichen Runde über den Friedhof Steine ans Flussufer und sagten Dinge wie:
    Armer Trachim - ich kannte ihn nicht gut, aber ich hätte
    ihn gut kennen können.
    oder
    Du fehlst mir, Trachim, auch wenn wir uns nie begegnet sind.
    oder
    Ruhe, Trachim, ruhe in Frieden. Und mach unsere Mühle sicher.
    Einige vermuteten auch, dass er nicht unter seinem Wagen begraben, sondern vom Fluss zum Meer getragen worden war und das Geheimnis seines Lebens in sich bewahrt hatte wie eine Flasche, die einen Liebesbrief enthält und eines Morgens von einem nichts ahnenden Liebespaar bei einem romantischen Strandspaziergang gefunden wird. Möglicherweise waren er oder ein Teil von ihm am Ufer des Schwarzen Meers oder in Rio angespült worden oder hatten es sogar bis nach Ellis Island geschafft.
    Oder vielleicht hatte ihn eine Witwe gefunden und in ihr Haus gebracht: Sie kaufte ihm einen Schaukelstuhl, zog ihm jeden Morgen einen anderen Pullover an, rasierte ihn, bis die Haare aufhörten zu wachsen, nahm ihn abends mit ins Bett, flüsterte ihm süße Trivialitäten in das, was von seinem Ohr übrig geblieben war, lachte mit ihm bei schwarzem Kaffee, weinte mit ihm beim Betrachten vergilbter Fotos, sprach blauäugig davon, dass sie Kinder haben wolle, begann sich nach ihm zu sehnen, bevor sie schließlich krank wurde, setzte ein Testament auf, in dem sie ihm alles vermachte, dachte beim Sterben allein an ihn, wusste immer, dass er nur eine Einbildung war, und glaubte dennoch an ihn.
    Andere waren überzeugt, es habe nie einen Leichnam gegeben. Trachim, der geniale Betrüger, habe tot sein wollen, ohne zu sterben. Er habe seinen ganzen Besitz auf einen Wagen geladen, sei in das unbedeutende, namenlose Schtetl gefahren - das bald wegen des jährlichen Festes, dem Trachim-tag, in ganz Ostpolen bekannt war und wie ein Waisenkind Trachims Namen trug (und nur auf Landkarten und in mormonischen Volkszählungsunterlagen als Sofiowka bezeichnet wurde) -, habe seinem namenlosen Pferd einen letzten Schlag aufs Hinterteil gegeben und es in den Fluss getrieben. War er auf der Flucht vor Schulden gewesen? Vor einer unerwünschten arrangierten Ehe? Vor Lügen, die ihn schließlich eingeholt hatten? War sein Tod ein unerlässliches Moment für die Fortsetzung seines Lebens?
    Natürlich gab es auch welche, die darauf hinwiesen, dass Sofiowka verrückt sei, dass er nackt im Brunnen der Hingestreckten Meerjungfrau zu sitzen pflege, wo er ihren schuppigen Hintern liebkose wie die Fontanelle eines Neugeborenen, und dass er seine eigene bessere Hälfte liebkose, als sei ganz und gar nichts dagegen einzuwenden, dass einer überall und zu jeder Gelegenheit an seinem gereckten Abzug herumzupfte. Oder dass man ihn, eingewickelt in weiße Schnur, eines Tages im Vorgarten des Hochgeachteten Rabbis gefunden habe und dass er gesagt habe, er habe ein Stück Schnur um seinen Zeigefinger gebunden, um etwas schrecklich Wichtiges nicht zu vergessen, und dann, aus Angst, seinen Zeigefinger zu vergessen, eine Schnur um seinen kleinen Finger gebunden habe, und dann eine von der Taille bis zum Hals, und, aus Angst, auch diese zu vergessen, eine Schnur vom Ohr zum Eckzahn, von dort zum Hodensack und von dort zur Ferse gespannt habe - dass er, mit einem Wort, seinen Körper benutzt habe, um seinen Körper nicht zu vergessen -und sich schließlich nur an die Schnur habe erinnern können.
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