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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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eine Fliege durch die Ritze unter der Synagogentür und begann die unter der Decke hängenden Gläubigen zu belästigen. Sie flog von einem Gesicht zum anderen, landete summend auf langen Nasen und kroch in behaarte Ohren. UND WENN DIES EINE PRÜFUNG IST, klärte der Ehrwürdige Rabbi in dem Versuch, seine Gemeinde zusammenzuhalten, SOLLTEN WIR UNS DANN NICHT BEMÜHEN, SIE ZU BESTEHEN? UND DAHER ERMAHNE ICH EUCH: EHER SOLLT IHR ZU BODEN FALLEN, ALS DASS IHR DAS HEILIGE BUCH FALLEN LASST!
    Doch die Fliege gab keine Ruhe und kitzelte einige an den kitzligsten Stellen. UND SO WIE GOTT ZU ABRAHAM SAGTE, ER SOLLE ISAAK DAS MESSER ZEIGEN, SO SAGT ER JETZT ZU UNS, DASS WIR UNS NICHT AM HINTERN KRATZEN SOLLEN, UND WENN ES GANZ UND GAR UNUMGÄNGLICH IST, SO SOLLEN WIR AUF JEDEN FALL DIE LINKE HAND BENUTZEN! Die Hälfte der Gemeinde hielt sich an das, was der Rabbi erklärt hatte, und ließ lieber das Seil als das heilige Buch los. Dies waren die Vorfahren der Gemeinde der Aufrechten Synagoge. Zweihundert Jahre lang erkannte man ihre Mitglieder an einem vorgetäuschten Humpeln, mit dem sie sich selbst - oder vielmehr die anderen -daran erinnerten, wie sie die Prüfung bestanden hatten: indem sie dem geheiligten Wort den Vorzug gegeben hatten. (ENTSCHULDIGUNG, RABBI, ABER WELCHES WORT IST DAMIT DENN NUN EIGENTLICH GEMEINT? Der Ehrwürdige Rabbi zog seinem Schüler eins mit dem Thorastab über und sagte: UND WENN DU ES NÖTIG HAST ZU FRAGEN!... ) Manche der Aufrechten gingen so weit, dass sie sich weigerten, überhaupt einen Fuß vor den anderen zu setzen, um so auf einen noch dramatischeren Sturz hinzuweisen. Was natürlich bedeutete, dass sie nicht zur Synagoge gehen konnten. WIR BETEN, INDEM WIR NICHT BETEN, sagten sie. WIR BEFOLGEN DAS GESETZ, INDEM WIR GEGEN ES VERSTOSSEN.
    Diejenigen, die lieber das Gebetbuch als sich selbst fallen ließen, waren die Vorfahren der Gemeinde der Wankelnden Synagoge (wie sie von den Aufrechten genannt wurde). Sie befingerten die Fransen, die sie an die Manschetten ihrer Hemden genäht hatten, um sich selbst - oder vielmehr die anderen - daran zu erinnern, wie sie die Prüfung bestanden hatten: indem sie zu dem Schluss gekommen waren, dass die Schnüre immer am Körper getragen werden müssten, damit der Geist des geheiligten Wortes stets gegenwärtig sei. (Entschuldigung, aber kann mir jemand sagen, was es mit diesem geheiligten Wort auf sich hat? Die anderen zuckten die Schultern und diskutierten weiter darüber, wie man dreizehn Knisches unter dreiundvierzig Leuten aufteilen könne.) Die Sitten der Wankler wandelten sich: Die Flaschenzüge wurden gegen Kissen eingetauscht, die hebräischen Gebetbücher gegen leichter verständliche jiddische, der Rabbi gegen einen von einer Gruppe geleiteten Gottesdienst mit Diskussionen, gefolgt - meist aber unterbrochen - von Essen, Trinken und Tratschen. Die Aufrechten sahen auf die Wankler herab, denn diese schienen bereit, jedes jüdische Gesetz für etwas aufzugeben, das sie lahm als die große und notwendige Versöhnung der Religion mit dem Leben bezeichneten. Die Aufrechten bedachten sie mit allen möglichen Spottnamen und verhießen ihnen wegen ihres Drangs, sich in dieser Welt behaglich einzurichten, ewige Qualen in der nächsten Welt. Aber die Wankler waren wie Schmul, der Milchmann mit den chronischen Verdauungsproblemen: Sie gaben einen Scheiß darauf. Abgesehen von den seltenen Tagen, an denen die Aufrechten und die Wankler von verschiedenen Seiten versuchten, die Synagoge zu verschieben, um das Schtetl frommer oder weltlicher zu machen, ignorierten sie einander einfach.
    Sechs Tage lang standen die Einwohner des Schtetls, Aufrechte wie Wankler, vor der Aufrechten Synagoge Schlange, um einen Blick auf meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter zu werfen. Viele kamen viele Male. Die Männer durften das Baby untersuchen, es berühren, zu ihm sprechen, ja es sogar im Arm halten. Frauen waren in der Aufrechten Synagoge selbstverständlich nicht zugelassen, denn der Ehrwürdige Rabbi hatte vor so langer Zeit erklärt: UND WIE SOLLEN WIR UNSEREN GEIST UND UNSER HERZ AUF GOTT RICHTEN, WENN JENER ANDERE TEIL UNS UNREINE GEDANKEN AN IHR WISST SCHON WAS EINGIBT?
    1763 kam man zu einem Kompromiss, der allen recht vernünftig erschien: Den Frauen wurde erlaubt, in einem engen, feuchten Raum unter einem eigens eingebauten Glasboden zu beten. Es dauerte jedoch nicht lange, und die Männer wandten den Blick von dem geheiligten Buch und warfen ihn auf den Chor der
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