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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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schon nicht für das Mädchen, dann für mich. Ich bin ein rechtschaffener Mann, und auf gewisse Dinge habe ich ein Anrecht.
    Von dem einsamen Kerzenzieher Mordechai C., dessen Hände in Handschuhen aus Wachs steckten, das nie mehr abgewaschen werden konnte: Ich bin den ganzen Tag so einsam in meiner Werkstatt. Nach mir wird es keinen Kerzenzieher mehr geben. Erscheint das nicht irgendwie vernünftig?
    Von dem arbeitslosen Wankler Lumpl W., der an Passah ruhte, nicht weil es den religiösen Geboten entsprach, sondern weil er dachte: Warum sollte diese Nacht anders sein als die anderen?: Ich bin nicht der großartigste Mensch, den es je gab, aber ich wäre ein guter Vater, und das weißt du auch.
    Von dem toten Philosophen Pinchas T., dem in der Mühle ein Balken auf den Kopf gefallen war: Wirf sie wieder ins Wasser und lass sie bei mir sein.
    Der Hochgeachtete Rabbi war überaus erfahren in allen großen, extragroßen und extra-extragroßen Fragen des jüdischen Glaubens und imstande, auf die entlegensten und unentzifferbarsten Texte zurückzugreifen, um scheinbar unlösbare religiöse Probleme zu lösen, doch er wusste kaum etwas über das Leben selbst, und daher - weil diese Art der Geburt eines Babys in keiner Schrift erwähnt wurde, weil er niemand um Rat fragen konnte (wie würde es denn aussehen, wenn er, der Quell allen Rates, jemanden um Rat fragen würde?), weil das Baby dem Leben entsprang, weil es das Leben selbst war -wusste er nicht, was er tun sollte. SIE SIND ALLESAMT RECHTSCHAFFENE MÄNNER, dachte er. ALLESAMT VIELLEICHT EIN BISSCHEN UNTER DEM DURCHSCHNITT, ABER IM GRUNDE IHRES HERZENS ERTRÄGLICH. WER IST AM WENIGSTEN UNWÜRDIG?
    DIE BESTE ENTSCHEIDUNG IST KEINE ENTSCHEIDUNG, beschloss er, legte die Zettel in den Thoraschrein und schwor, meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter - und in gewissem Sinne also mich - dem Verfasser des ersten Briefes zu geben, nach dem sie greifen sollte. Doch sie griff nach keinem der Zettel. Sie beachtete sie überhaupt nicht. Zwei Tage lang rührte sie sich nicht. Sie weinte nicht und öffnete den Mund nicht einmal, um zu trinken. Die Männer mit den schwarzen Hüten hingen weiterhin an den Flaschenzügen und schrien ihre Gebete (HEILIG, HEILIG, HEILIG...),sie baumelten weiterhin über dem verpflanzten Brod, umklammerten das heilige Buch fester als das Seil und beteten, dass einer ihre Gebete erhörte, bis der gute Gefilte-Fisch-Händler Bitzl Bitzl R. mitten im frühen Spätgottesdienst rief, was alle anderen dachten: DIESER GESTANK IST UNERTRÄGLICH! WIE KANN ICH SO TUN, ALS WÄRE ICH NAHE BEI GOTT, WENN ICH DAS GEFÜHL HABE, ALS WÄRE ICH NAHE AM SCHEISSHAUS!
    Der Hochgeachtete Rabbi, der diese Meinung teilte, hielt im Gebet inne. Er ließ sich auf den Glasboden hinab und öffnete den Thoraschrein. Ein unglaublich entsetzlicher Gestank breitete sich aus, ein alles einhüllender, unmöglich zu ignorierender, unmenschlicher und unentschuldbarer Gestank von unerhörter Widerwärtigkeit. Er quoll aus dem Thoraschrein, strich durch die Synagoge, strömte durch alle Straßen, alle Gassen des Schtetls, kroch in jedes Schlafzimmer und unter jedes Kissen - wobei er lange genug in die Nasen der Schlafenden eindrang, um ihren Träumen eine andere Wendung zu geben, bevor er sie mit dem nächsten Schnarcher wieder verließ - und ergoss sich schließlich in den Brod.
    Das Baby war vollkommen stumm und reglos. Der Hochgeachtete Rabbi stellte die Wiege auf den Boden, zog einen tropfnassen Zettel heraus und rief: WIE ES SCHEINT, HAT DAS KIND JANKEL ZU SEINEM VATER ERWÄHLT!
    Wir würden in guten Händen sein.
    2O.Juli 1997 Lieber Jonathan, ich sehne, dass dieser Brief gut wird. Wie du weißt, bin ich nicht erstklassig mit Englisch. In Russisch sind meine Ideen abnorm gut formuliert, aber meine zweite Sprache ist nicht so unerreicht. Ich habe die Dinge eingesetzt, die du mir geraten hast, und ich habe das Wörterbuch, das du mir geschickt hast, erschöpft, wie du es mir auch geraten hast, wenn meine Wörter zu klein oder zu unanständig waren. Wenn du nicht glücklich bist mit dem, was ich gemacht habe, befehle ich dir, es mir zurückzuschicken. Ich werde fortfahren, mich damit zu bemühen, bis du besänftigt bist.
    Ich habe in den Umschlag die Dinge geschoben, die du gebeten hast, und auch nicht die Postkarten von Lutsk, die Volkszählungshefte von den sechs Dörfer von vor dem Krieg und die Fotos zurückgehalten, die du mich gemahnt hast, aus sicheren Begründigungen zu behalten. Das war
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