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Herr der Schlangeninsel

Herr der Schlangeninsel

Titel: Herr der Schlangeninsel
Autoren: Stefan Wolf
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1. Seit 1000 Jahren Fehde
     
    Tim blockte den Fauststoß mit dem
linken Unterarm ab, stieß mit der rechten Handfläche zu und traf Chung Cheok Li
hart auf der Brust.
    Der Chinese taumelte zurück. Aber er
bewahrte das Gleichgewicht, indem er mit einer fast tänzerischen Bewegung den
geduckten Reitsitz einnahm. Ein Lächeln huschte über das hagere Gesicht.
    „Genug für heute, Tim. Du hast einen
Punkt mehr.“
    Tim hob die Fäuste zur Ehrenbezeigung,
die den schönen Namen hat ,Drache und Tiger stellen sich vor’.
    „Nur weil Sie heute unkonzentriert
sind, Chung. Haben Sie Zahnschmerzen?“
    Chungs Lächeln, in dem keine Spur von
Humor lag — ebensogut hätte er die Zähne fletschen oder mit dem
Drachenstampftritt die Wand des Trainingsraums mißhandeln können — , dieses verhaltene
Lächeln leuchtete abermals auf.
    „Nein, Tim. Nur Kummer und Zorn.“
    Tim hatte sich verbeugt, wie man das
einem erhabenen Kung Fu-Lehrer schuldet, und hob jetzt fragend die Brauen.
    „Dusch erst mal und zieh dich um“,
sagte Chung. „Dann erzähle ich dir, welcher Taifun in meiner Seele wütet und
mit meinem Herzblut über die Ozeane stürmt.“
    Muß ja fürchterlich sein, dachte Tim,
während er in den Duschraum sockte.
    Dort tröpfelte Wasser aus dem Hahn über
dem Waschbecken. Pitsch, pitsch, pitsch... Seit einem halben Jahr war er
kaputt. Aber das störte Chung nicht.
    Tim legte seinen schwarzen Kung
Fu-Anzug ab, erfrischte sich unter der Dusche und stellte dann vor dem Spiegel
fest, daß er einen neuen blauen Fleck an der Schulter hatte.
    Harter Sport!
    Chung war vielfacher Meister des
Shaolin-Tempel-Boxens, dem sogenannten Ur-Kung Fu.
    Und Tim lernte bei Chung — mit wahrer
Besessenheit. Mindestens zweimal pro Woche trainierte der TKKG-Häuptling — den
man früher Tarzan genannt hatte — in Chungs Club für altchinesische Bewegungs-
und Kampfkunst.
    Freilich war Tim einer von nur wenigen
Tempel-Boxern. Seinen anderen Schülern lehrte Chung die sogenannten weichen
Künste wie Tai Chi Chuan und Akupressur.
    Tim rubbelte sich die braunen Locken
trocken, steckte das rote T-Shirt in den Jeansbund und ging hinüber in die Bar
des Clubs, wo man Fruchtsäfte und Mineralwasser trinken konnte — manchmal auch
chinesischen Tee, der die Farbe von Kuhfladen hat, aber als gesund gilt.
    Chung stand hinter der chromblitzenden
Theke.
    Er hatte zwei Drinks mit gekühltem
Ananas-Saft vorbereitet und lächelte wieder so leer und freudlos wie vorhin.
    Kummer und Zorn, dachte Tim. Er ist
mein Freund — mein väterlicher Freund. Wenn ich ihm helfen kann, schalte ich
mich und die TKKG-Bande ein.
    Der Chinese war 44, wie Tim wußte. Aber
man hätte den hageren muskulösen Mann auch für 30 oder 60 halten können. Ein
scheinbar maskenhaftes Gesicht ohne Alter. Chung konnte Steine mit bloßer Hand
zertrümmern, für die ein Mann gebaut wie Herkules mindestens einen Schmiedehammer
benötigt.
    Tim setzte sich auf einen der Barhocker
und stellte seine Sporttasche neben sich.
    Draußen, hinter den senffarben
angestrichenen Fensterscheiben — wer will schon, daß Neugierige reinglotzen? —
lag die Sommerhitze wie Atemnot in den Straßen. Der Asphalt weichte auf. In den
Autos fauchten die Belüftungen. In den Büros gähnten die Menschen und träumten
vom Urlaub.
    „Prost!“ sagte Chung und hob seinen
Ananassaft.
    Tim trank und ließ das Aroma im Mund
kreisen.
    „Die Nachricht“, Chung starrte auf
seine stahlharten Hände, „hat mich heute vormittag erreicht. Über einen Vetter
in Singapur, der die Mitteilung nach Zürich weitergab, von wo mich der
ehrenwerte Ping Li anrief. Du mußt wissen, die Sippe Li — der anzugehören ich
die Ehre habe — ist über die ganze Welt verstreut.“
    Tim nickte. „Ist vorteilhaft, wenn man
gern Besuche macht.“
    „Wir stehen immer untereinander in
Verbindung.“
    „Meine ehrenwerte Familie“, sagte Tim,
„ist leider schrecklich klein. Außer meiner Mutter und mir ist kaum noch wer
übrig. Keine Ahnung, woran das liegt, wo wir doch ein gesunder Schlag sind.“
    „Unsere Sippe kann ihre Ahnen
zurückverfolgen bis ins Jahr 1000, Tim. Aber der Familienschatz ist noch weit
älter. Nein, nicht Schatz. Das ist das falsche Wort. Der Jade-Tiger ist eine
Art Familienheiligtum. Er stammt aus der Hang-Dynastie — also aus der Zeit 206
bis 220 nach Christi.“
    „Enorm lange her. Jade? Das ist doch
dieser apfelgrüne Halbedelstein?“
    „Er ist wertvoller als Gold. Chinesen
sehen im Jade-Stein die
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