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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras
Autoren: Christian Mähr
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sagen. Jetzt nicht und nicht bis ans Ende ihrer Tage.
    Nie.
    »Wenn das Nitro in einer der Flaschen war, die dieser Nikolaus verteilt hat: Warum soll er dann annehmen, dass NathanaelWeiß im Urlaub ist, wenn die Flasche am nächsten Tag verschwunden ist?«
    Das brachte ihn für einen Augenblick aus dem Konzept. Lügen war schwer. Aber er hatte Übung. Lügen war eine Spielart der Improvisation.
    »Das passt doch!«, sagte er. »Daran kann man doch sehen, dass es ein Denkzettel sein sollte!«
    »Wieso?«
    »Du gehst davon aus, dass er nachgeschaut hat, ob die Flaschen da sind. Hat er nicht! Wieso auch? Die bewusste sollte dort explodieren, wo er sie hingestellt hatte: vor dem Haus – oder hinter dem Haus …«
    »Hinter dem Haus?« Sie war jetzt interessiert.
    »Niemand hat gesehen, dass dieser Nikolaus die Flasche vor der Nummer 20 abgestellt hat. Ich nehme an, dass er dieses spezielle Exemplar irgendwo hinter dem Haus deponiert hat, zum Beispiel in dem Abgang zur Kellertür, wo man sie nicht sieht – schon um zu verhindern, dass ein Nachbar oder sonst wer sich daran zu schaffen macht.«
    »Du meinst, der hat nie daran gedacht, die Flasche ins Haus zu bugsieren?«
    »Genau so ist es. Wenn sie ihn jemals fassen, wird er das bestätigen. Die Explosion von außen hätte die Tür rausgerissen, das Haus beschädigt, alle Scheiben zu Bruch gehen lassen, so etwa … ein klarer Denkzettel. Aber es ist anders gekommen, weil Nathanael in Wahrheit zu Hause war, am nächsten Morgen die Flasche entdeckt und reingestellt hat. In die Küche. In der Nacht bricht Ingomar bei ihm ein …« Und jetzt, wie ging es weiter? Warum hatte der Attentäter so lang mit der Auslösung gezögert? Nein, er hatte gar nicht gezögert, das war es ja eben! Ich bin gut darin, Sachen zu erfinden, schoss es ihm durch den Kopf. Richtig gut! Ich sollte mehr lügen …
    »… und der Attentäter drückt auf den Knopf«, sagte sie.
    »Das glaube ich eben nicht. Warum hätte er so lang warten sollen? Ich glaube, der hat gleich nach der Verteilaktion auf seinen Knopf gedrückt. Es ist aber nichts passiert. Der Mechanismus hat versagt.«
    »Wie kommst du denn darauf?«
    »Weil so alles zusammenpasst. Diese Zündsachen sind unheimlich heikel, da muss man sich wirklich auskennen. Die Polizei sagt, das Nitro war Eigenbau, der Zünder sicher auch. In Chemie hat er sich halt besser ausgekannt als in Elektronik …«
    »Warum ist die Flasche dann überhaupt explodiert?«
    »Ein Kampf! Ein Handgemenge … Die Flasche ist runtergefallen. Nitroglycerin verträgt das nicht, das Runterfallen. Bums!«
    Sie stand auf, zog sich an. An der Nasenwurzel erschien jene Querfalte, die auf intensives Nachdenken wies.
    »Dann wären es also unglückliche Zufälle gewesen … und der Anschlag hatte nichts mit unseren Aktivitäten zu tun …«
    »Natürlich nicht. Irgendein Klein- bis Mittelkrimineller, dem Nathanael einmal auf den Fuß getreten ist; jemand mit einer abgebrochenen Laborantenausbildung. Oder er kannte einen mit solchen Kenntnissen, so jemanden, der in der Küche Amphetamin herstellt …«
    »Das ist gut möglich. Was wird er jetzt tun?«
    »Wer?«
    »Der Attentäter.«
    »Der wird sich verstecken und den Tag verfluchen, an dem er auf die unglückselige Idee gekommen ist, sein Mütchen an Nathanael Weiß zu kühlen. Wenn sie ihn nämlich schnappen, muss er die Geschichte, die wir eben entwickelt haben, dass alles nur ein Unfall war, erst einmal den Geschworenen plausibelmachen – nur um von Mord und versuchtem Mord loszukommen.«
    »Du meinst, der wird sich nicht mehr rühren?«
    »Der verhält sich mucksmäuschenstill.«
    Noch als er den Satz aussprach, erkannte er den Fehler. Er hätte seine Frau nicht anzusehen brauchen, um zu merken, wie sich ihre Stimmung wandelte. Von Angst auf Mut. Er hatte den Riegel weggestoßen, die Tür ging wieder auf. Diese Tür würde sie wieder zu der gewohnten Tätigkeit führen. Der Verbesserung von Dornbirn durch Elimination schädlicher Elemente. Wenn man es so formuliert, dachte er, klingt es wie eine Diplomarbeit. In Soziologie. Praktische Soziologie. Gab es das überhaupt? Wenn ja, verstand die wissenschaftliche Welt etwas anderes darunter als Hilde Galba, so viel war sicher.
    Hilde Galba hatte keine Angst mehr.
    Das war schön, er ertrug es nicht, dass sie Angst hatte. Er liebte sie. Das wurde ihm jetzt klar. Er liebte sie trotz der Dinge, die sie getan hatte. Er liebte sie. Denn mit seiner Geschichte hatte er alle Angst, die
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