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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras
Autoren: Christian Mähr
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begeistert uns, natürliches Elixier, das die Evolution vorgesehen hat, um uns den Aufenthalt auf diesem Planeten zu ermöglichen; wer es nicht hat, der kümmert dahin, stirbt zwar nicht gleich, das nicht, aber mit Verzögerung dann eben doch, woher kommen denn der ganze Krebs und die Herzgeschichten? Von der ungesunden Lebensweise und dem Cholesterin, ja, wahrscheinlich! Alles Lügenmärchen. Ungesunde Lebensweise stimmt sogar, aber nicht so, wie es die Ärzte und die Pharmaverbrecher den Leuten einzureden versuchen, dachte er, die nur ihre Mittelchen verkaufen wollen, die ihm dann die Scherereien der biologischen Stufe machten, sondern ungesund, weil ohne Sex, das war das ganze Geheimnis …
    Er wusste, während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, dass sie überzogen und pubertär waren und er sie nie jemandem offenbaren konnte, auch ihr nicht. Besonders ihrnicht. Er hätte sich angehört wie ein Fünfzehnjähriger nach dem ersten Sex mit einer womöglich deutlich älteren Partnerin, total überwältigt. Es stimmte ja auch. In gewisser Weise war es seine erste sexuelle Erfahrung. Die erste richtige. Alles davor nur Surrogat, auch mit Hilde, leider, aber es war so, daran konnten zwanzig Jahre Ehe nichts ändern und nicht zwei Töchter und alles …
    Er hatte nicht gewusst, dass Sex so sein konnte. Er beugte sich vor, streichelte ihren Rücken und küsste sie zwischen die Schulterblätter. Langsam zog er sich zurück, sie seufzte; der Laut glich dem beim Vorstoß, er fand das seltsam und faszinierend, wenn man die beiden Seufzer aufnähme, dachte er, nur diese Seufzer, könnte niemand entscheiden, welcher vom Anfang stammte und welcher vom Ende. Als ob es gar keinen Unterschied gäbe, was nur daran liegen konnte, dass es Anfang und Ende gar nicht gab, weil das nur zwei Seiten derselben Medaille waren und das Eigentliche, das, was sie beide verband, Helga und ihn, keinen Anfang hatte und kein Ende, also ewig währen würde.
    »Woran denkst du?« Sie hatte sich aufgerichtet und umgedreht, den Fichtenast losgelassen, natürlich; wieso verdorrte der nicht im selben Augenblick? »Du denkst wieder, gib’s zu!« Mit einer trägen Geste entsetzlicher Laszivität strich sie den Rock glatt, setzte die Ellbogen auf die Brüstung, lehnte sich nach hinten, ohne sich auf die Bank zu setzen, auf der sie breit gespreizt gekniet hatte, er sah es noch vor sich, es war erst zwei Minuten her, aber im selben Augenblick kam ihm das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie ein Trugbild vor, eine fotorealistisch am Computer zusammengebastelte Montage, dazu brauchte man nicht nach Hollywood, das brachte jeder daheim zustande; es hatte nur nichts mit ihm zu tun. Es ist zu schön, dachte er, deshalb kann ich es nicht glauben, der Verstandweigert sich, die Erinnerung als echt einzustufen, das muss ein Fake sein, sagt der Verstand, das gibt es nicht.
    »Woran denkst du wieder?«, insistierte sie, löste sich von der Brüstung, legte ihm die Hände an den Hals, zog ihn mit sachter Bewegung näher, sah das Wasser in den Augen glänzen, bedeckte sein Gesicht mit Küssen. »Du sollst nicht denken, nicht traurig sein, es soll doch schön sein, nicht traurig …«
    »Ich bin nicht traurig«, flüsterte er.
    »Aber du weinst doch …«
    »Weil ich glücklich bin …«
    Sie umarmte ihn. Dieses Reden danach hatte sich so eingespielt; sie erwartete auf die Frage: Woran denkst du? keine Antwort. Es war kein Text, an den sie sich hätten halten müssen, nur ein Set bestimmter Sätze und Handlungen, immer ähnlich, immer eine Beschreibung überirdischen Glücks. Sie hatten das nicht geplant, alles ergab sich im Lauf der Zeit. Manche Worte hatten einen Nebensinn, denken war so ein Codewort während der Arbeit, wenn sie ihn bei der Diskussion eines technischen Problems fragte: Wir sollten doch noch eine O2-Bestimmung machen, nur um sicherzugehen – was denkst du? Dann antwortete er ungefähr: Ich denke, das ist eine gute Idee, oder etwas Ähnliches. So konnte es noch eine Weile weitergehen mit verschiedenen Verbindungen von denken . Mitdenken, vordenken, nachdenken. Und niemandem, der sonst dabei war, fiel etwas auf, obwohl sie sich kaum noch das Lachen verbeißen konnten. Oder weinen .
    »Wenn ich an den Sandabscheider denke, könnte ich weinen«, hatte er heute in der Sitzung gesagt und auf die überraschten Blicke der anderen von der Unvernunft der Leute zu schwadronieren begonnen, was sie alles ins Klo werfen und so weiter, eben gestern habe er
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