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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras
Autoren: Christian Mähr
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dachte er, ist nicht wiederholbar, die meisten Menschen erleben das höchstens einmal im Leben und viele gar nicht. Aber jetzt herrschte eine tiefere Verbundenheit als je zuvor, eine Art Vertrauen, die über das Sexuelle hinausging, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Er liebte sie. Und sie liebte ihn.
    Es war ein Sonntag, das vergaß er nie. Der spätere Vormittag. Sie hatten miteinander geschlafen. Das war neu, das hatten sie früher nie getan, es am hellen Vormittag miteinander zu treiben. Es war sehr schön gewesen, sehr befriedigend. Er lag neben ihr, den schweißnassen Körper im Arm, ihr Haarschopf auf seiner Brust, einen Arm hatte sie um ihn geschlungen. Von draußen sickerte das Vormittagslicht durch die Vorhänge. Alles war warm und alles war gut. Bis sie anfing. Zu reden anfing.
    Er dachte später oft an diesen Sonntagvormittag zurück. Er suchte die Schuld bei sich. Wenn sie es zu dieser Stunde nichtgetrieben hätten, wenn der Sex dann nicht so außerordentlich befriedigend gewesen wäre, besser als sonst, noch besser – dann hätte sie geschwiegen, davon war er überzeugt. Aus allem, was sie dann sagte, ging es ja hervor, dass sie nur in einer Situation vollkommener Einheit, intensivsten Vertrauens, in einem Augenblick des Glücks den Mut gefunden hatte. Den Mut zu sprechen. Selbst dann nahm sie zu einer Lüge Zuflucht, die sie im Augenblick selber glaubte; zehn Sekunden Nachdenken mit einem Verstand, der nur etwas klarer war als der ihre, in dem noch die Orgasmuslaute der letzten Minuten nachzitterten, hätten sie erkennen lassen, dass sie sich etwas vormachte, dass ebendas, was sie nun sagte, nicht der Wahrheit entsprach.
    »Du weißt es ja«, sagte sie. »Du weißt es doch längst.«
    »Was meinst du?«
    »Dass ich diese Frau bin.«
    »Welche Frau?«
    »Die dem Nathanael immer geholfen hat. Er hat mich Freigräfin genannt, halb im Spaß.«
    »Halb im Spaß, aha.« Sein Bewusstsein teilte sich. Der eine Teil war hier, in diesem Bett mit dieser Frau. Seiner Frau. Dieser Teil wiederholte teilweise, was sie ihm erzählte. Der andere Teil schwebte wie in den Nahtoderfahrungen über dem Bett und sah sie beide von außen, von oben und, wie es üblich ist, geprägt von einer unerklärlichen Distanz, einer gewissen Kälte der Empfindung. Der eine Teil bemühte sich, nicht zu schreien, der andere Teil beobachtete ihn dabei, ohne Anteil zu nehmen. Aus diesem Teil kam der Gedanke: Du sitzt in der Scheiße, weißt du das?
    Ja, das weiß ich, verdammt noch mal!
    Kein Grund, zu fluchen. Du hast es dir selber zuzuschreiben.
    Das weiß ich doch! Was mach ich denn jetzt?
    Soll ich raten? Du machst, was du immer gemacht hast. Nichts.
    Das ist nicht wahr!
    Wie du meinst.
    Damit verstummte der abgehobene Teil des Bewusstseins, verschwand irgendwie, vielleicht durch die Decke, vielleicht hatte er sich mit dem Panikbewusstsein wieder vereinigt, war darin aufgesogen worden, hatte die Kälte verloren, die Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie waren. Aber was das kalte Bewusstsein gesagt hatte, blieb ihm haften: Er hatte nichts getan und würde nichts tun. Nichts aus eigenem Antrieb. Nichts selber tun hieß auch: tun, was andere von ihm forderten. Das konnte Nathanael Weiß sein oder die eigene Frau, Hilde, die Freigräfin von Dornbirn. Es war schon in diesem Augenblick nach ihrem Geständnis entschieden, dass er tun würde, was sie verlangte. Etwas anderes kam nicht in Frage. Und es war entschieden, dass er ihr nicht sagen würde, wer Nathanael Weiß und Ingomar Kranz in die Luft gesprengt hatte. Nein, nein, das kam noch weniger in Frage, das war, wenn es eine Steigerung von unmöglich geben sollte, noch unmöglicher.
    Sie redete und redete und erzählte. Und erzählte. Wie das alles mit Maria gewesen war, wie sie Nathanael bei dem verfluchten Hopfner geholfen hatte, und nachher erzählte sie von Mugler und Warlam Edmundowitsch Lemonow …
    »Wer sind die?«, unterbrach Galba.
    »Ach so, das weißt du ja gar nicht! Dieser Drogenboss und sein Schläger. Ich fürchte nur, da haben wir es übertrieben und schlafende Hunde geweckt …«
    »Wie meinst du das?« Er richtete sich halb auf, blickte auf sie hinab.
    »Nein, das kann nicht sein«, sagte sie. »Wer sollte davon wissen … Ich dachte, dass die aus dem Osten jemanden geschickt haben.«
    »Aus dem Osten? War dieser Warlam Russe?«
    »Allerdings. Es kann natürlich sein, dass irgendwas durchgesickert ist, und jetzt haben sie sich an Nathanael gerächt. Dann bin ich
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