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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras
Autoren: Christian Mähr
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sich ein solches wenigstens konstruieren, aber bei genauerer Betrachtung musste man sich eingestehen, dass die Gesetzesbrecher vom landesüblichen Typus weder die technischen noch die intellektuellen Voraussetzungen für Nitroglycerin hatten; die meisten hätten sich schon beim Versuch der Herstellung in die Luft gesprengt. Der Fall blieb offen, die Ermittlungen wurden nach einem Jahr eingestellt. Wenn nicht der Zufall zu Hilfe kam, würde nie geklärt werden, wer Weiß und Kranz in die Luft gesprengt hatte, das war den Beteiligten klar, auch wenn es niemand öffentlich so formulierte.
    Ängste, es werde jetzt das organisierte Verbrechen die Macht übernehmen – erst in Dornbirn, dann in Österreich und ganz Europa –, bewahrheiteten sich nicht; jedenfalls spürte die Bevölkerung nichts von einer solchen Übernahme, die realiter vielleicht schon erfolgt war, aber eben ohne Schießereien und Bombenkrawall in Wohnsiedlungen. Das organisierte Verbrechen hatte an einer Publizität solcher Art kein Interesse. Es gab keine Blutlachen auf den Straßen, keine Krater, wo vorher bestimmte Autos gestanden waren, man fand keine mit Klavierdraht strangulierten Männer mediterranen Aussehens in Altpapiercontainern, und die Post musste keine abgeschnittenen Körperteile in wattierten Umschlägen befördern. Es blieb alles beim Alten.
    Auch für Anton Galba änderte sich nichts. Er ging jeden Morgen zur Arbeit, kam zu Mittag heim und ging am Nachmittag wieder hin. Er führte die Familiengespräche, die zu führen waren, er lächelte, wenn es erforderlich war, manchmal lachte er sogar. Im Lauf der Zeit lachte er mehr. Er machte Witze, ließ sich welche erzählen und merkte sie sich. Das war neu. Hilde fiel auf, dass ihr Anton eine innere Wandlungdurchzumachen schien. Sie sprach ihn nicht darauf an, sie wollte den Prozess nicht gefährden.
    Anton Galba wollte den Prozess auch nicht gefährden. Es war der Prozess des »Im-Lotto-Gewinnens«, nur in die Länge gezogen – von der Dauer eines einzigen Anrufs der Lottozentralstelle gedehnt auf mehrere Wochen. Zuerst glaubte er nicht an sein Glück. Er konnte es nicht glauben, vermutete, als die Opfer bekanntgegeben wurden, eine finstere Intrige: In Wahrheit war keiner von beiden ums Leben gekommen oder im Koma, sondern untergetaucht oder von den Behörden aus dem Verkehr gezogen, um ihn, den Unbekannten, aus der Reserve zu locken. Die Tage gingen hin, die Wochen. Nichts geschah. Keine Ermittler tauchten auf, um »Routinefragen« zu stellen, keine Verfolger fotografierten ihn auf dem Weg zur Arbeit, auch Hilde und die Töchter wurden von allen Menschen in Ruhe gelassen, anders konnte er es nicht sagen: Niemand wollte etwas von ihm. Nach drei Wochen begann er in Erwägung zu ziehen, dass die offizielle Version den Tatsachen entsprach. Man hatte keine Ahnung, wer die Attentäter waren, vermutete aber Verbindungen zum organisierten Verbrechen. Der Leiter der Abwasserreinigungsanlage Dornbirn kam in den Zeitungsberichten überhaupt nicht vor. Auch eine Frau wurde nie erwähnt. Anton Galba hielt es für möglich, dass diese geheimnisvolle Frau die Konsequenzen gezogen hatte und untergetaucht war.
    Und wenn das so war, würde sie ihr Inkognito beibehalten. Und dieselben Schlussfolgerungen ziehen wie die Polizei und Weiß’sche und Kranz’sche Verbindungen vermuten, von denen ihr die beiden nichts gesagt hatten. Zum Glück. Denn wenn sie davon nichts wusste, dachte Anton Galba, konnte sie ihr eigenes Davonkommen als möglichen Ausgang mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit betrachten; es war eine Hinrichtunggewesen, nach Art der Durchführung ein öffentlicher Akt, der jeden abschrecken sollte, der auf den Spuren von Kranz und Weiß wandelte. Wer sich raushielt, war nicht gefährdet. So konnte man hoffen. So konnte diese Frau hoffen, und Anton Galba konnte das auch.
    Die Ruhephase dauerte genau vier Wochen.
    Während dieser Zeit waren sich Anton und Hilde Galba wieder nähergekommen. Auch sexuell. Hilde sagte später, weil er freundlicher geworden sei. Genau so begründete sie ihr wieder entflammtes Interesse: freundlicher. Die Beziehung intensivierte sich; beide zeigten jenen Grad an Leidenschaft, den man von einem Paar ihres Alters erwarten durfte, wenn alle Parameter im grünen Bereich liegen. Die physiologischen, psychologischen, medizinischen. Anton Galba stellte fest, dass er jetzt lieber mit seiner Frau schlief als je zuvor. Nicht der Rausch der ersten Wochen, das nicht. So etwas,
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