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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester
Autoren: Wiebke Lorenz
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benennen.
    »Gabriele bringt mich«, lügt sie und wirft ihrer Chefin einen kurzen Blick zu. Gabriele nickt verstehend.
    »Okay«, gibt Tobias nach. »Dann sehen wir uns gleich zu Hause.« Sie legt auf. Mittlerweile ist Gabriele zu ihr gekommen und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Eva kann die Berührung jetzt ertragen.

    »Es ist auch für ihn bestimmt nicht leicht«, sagt Gabriele.
    »Ich weiß.«
    »Aber wenigstens habt ihr einander.«
    Da wo du hingehst, da will auch ich hingehen, da wo du bleibst, da will auch ich bleiben. Sie hat es versprochen. Damals, als sie sich in ihrer Not aneinander klammerten, als sie versuchten, sich gegenseitig Halt zu geben, eine kleine verschworene Gemeinschaft, nur sie und er. Nun muss sie dieses Versprechen auch halten.
     
    Während sie sich wieder dem Regal hinter der Kasse zuwendet, in dem sie die Reservierungen aufbewahren, um die Lieferung der bestellten Bücher nach Namen der Abholer einzuräumen, hört sie auf einmal Musik. Erstaunt dreht sie sich um, lässt ihren Blick durch den Laden schweifen, um die Quelle ausfindig zu machen. Hat Gabriele das Radio angestellt? Nein, die Buchhändlerin spricht mit einem Kunden, der noch kurz vor Ladenschluss das Geschäft betreten hat, sie ist nicht einmal in der Nähe der altersschwachen Anlage, die hinten im Büro steht. Aber noch immer ist da dieser Gesang, kaum hörbar zwar, aber doch deutlich genug. Angestrengt lauscht Eva. Er scheint von nirgendwoher zu kommen. Unwillig schüttelt sie den Kopf, um die leise Musik zu verscheuchen, es muss Einbildung sein. Doch sie ist immer noch da, verstummt einfach nicht, wird im Gegenteil lauter, so laut, dass sie es nicht mehr für ein seltsames Ohrgeräusch halten kann. Erst jetzt erkennt Eva die Melodie.

    Lascia ch’io pianga
Mia cruda sorte,
E che sospiri
La libertà
     
    Il duolo infranga
Queste ritorte
De’ miei martiri
Sol per pietà.
     
    Lass mich mein hartes
Schicksal beweinen
Und nach
Freiheit seufzen.
     
    Der Schmerz soll
die Fesseln meiner
Qualen brechen,
allein durch Barmherzigkeit.
    Die Arie der Almirena aus Händels Oper Rinaldo . Wie oft hat Eva das Stück gesungen, als sie sich als Teenager auf die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule vorbereitete. Ewigkeiten liegt das mittlerweile zurück, und trotzdem weiß sie noch genau, welche Schwierigkeiten sie hatte, das zweigestrichene E sauber zu singen. Quietschend, kraftlos klang ihre Stimme, wenn sie am Ende der Triole von »sospiri« zu diesem Ton kam. Dabei war ihr Lehrer sicher, dass sie ihn als Mezzosopran eigentlich spielend erreichen müsste, selbst für
einen Alt sollte das möglich sein. »Du hast da eine innere Blockade, die du loslassen musst, um deinen Klangkörper zu öffnen.« Wieder und wieder hatte sie es versucht, aber es schien wie verhext, je mehr Mühe sie sich gab, um so weniger klappte es. Stundenlang stand sie in ihrem Zimmer vorm Spiegel, eine Hand auf den Oberbauch gepresst, um ihr Zwerchfell zu spüren, probierte es so lange, bis ihr davon schwindelig wurde.
    Viel später erst, erinnert Eva sich, als die Musikhochschule schon lange kein Thema mehr für sie war, hatte sie es geschafft. Hatte dieses verdammte hohe E mit Leichtigkeit und doch kraftvoll gesungen. Hatte sich von den unsichtbaren Fesseln, die sie zurück hielten, befreit.
    »So, das war’s für heute.« Als Gabriele sie anspricht, verstummt die Musik abrupt. »Geh ruhig schon nach Hause, ich mach die Abrechnung allein und schließ später ab.«
    »Gut.« Noch einmal lauscht Eva. Aber da ist nichts mehr.

3
    Die erste Zigarette nach über zwei Jahren schmeckt seltsam heiß und bitter. Eva nimmt nur drei Züge, dann wirft sie die Kippe in den Rinnstein. Jetzt noch einer von den Kaugummis, die sie an einer Tankstelle zusammen mit den Zigaretten gekauft hat, damit Tobias nichts merkt. Er raucht zwar selbst abends, hasst es aber, wenn Eva es macht. »Ich muss das nicht tun«, sagt er immer. »Aber du kennst ja nur ganz oder gar nicht.« Das stimmt. Und in den vergangenen Jahren hat sie sich für gar nicht entschieden.
    Wieder kommt sie am Falkenried-Spielplatz vorbei, der nun einsam und verlassen da liegt. Funktionslos ohne Kinder, erst morgen Vormittag wird er wieder etwas sein. Eigentlich müsste Eva jetzt nur geradeaus weitergehen, über den Lehmweg runter zur Isestraße, durch die Klosterallee und Innocentiastraße bis zur Brahmsallee, in zehn Minuten wäre sie zu Hause. Aber sie biegt rechts in den Eppendorfer Weg ein,
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