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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester
Autoren: Wiebke Lorenz
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Spiegel steht und sich mit Rouge noch ein wenig mehr Leben auf die Wangen tupft, muss dieser sie, Eva, gemeint haben. Eine Verwechslung. Sie waren ja so schwer voneinander zu unterscheiden. Selbst Tobias findet das. Deshalb liebt er jetzt nicht mehr Marlene, sondern Eva. Und Eva liebt ihn. Das ist sie ihrer Schwester schuldig.
     
    Auf dem Weg zur Buchhandlung kommt sie am Spielplatz Falkenried vorbei. Kindergeschrei, vermischt mit den Ermahnungen der Mütter, die auf den Bänken sitzen und heimlich Zigaretten rauchen. Nur hin und wieder
mal eine, eigentlich so gut wie nie, zu Hause in ihren Altbauwohnungen in Eppendorf, Harvestehude oder Rotherbaum würden sie das nie tun.
    Eva kramt in ihrer Jackentasche, obwohl sie weiß, dass sie dort nichts finden wird, sie hat es ja schon lange vor der Schwangerschaft aufgegeben. An dem Tag, an dem sie und Tobias beschlossen, dass sie »es« versuchen wollten, hatte sie artig ihre letzte Zigarette geraucht und stattdessen begonnen, Folsäure zu nehmen und ihren Eisprung zu ermitteln. Aber gerade jetzt würde sie gern rauchen. Rauchen und in die Sonne blinzeln, so wie früher. »Ich finde, wir sollten es sofort wieder versuchen«, hat Tobias vor zwei Wochen gesagt. Das findet Eva nicht. Sie möchte lieber rauchen und nichts mehr versuchen, nicht mit Tobias.
    Sie horcht in sich hinein und erinnert sich an Freitagnacht. Ihr Mann auf ihr, in ihr. Sein Stöhnen, seine Beteuerung, dass er sie mehr liebt als sein Leben. Es ist gut. Sie weiß, dass nichts passiert ist. Niemals wird sie auf diesem Spielplatz sitzen, Zigaretten rauchen und dem Kind zurufen, dass es nicht so hoch schaukeln soll.
     
    »Du siehst gar nicht so schlecht aus.« Gabriele steht auf einer Trittleiter, sortiert die Neuerscheinungen in ein Bücherregal und wirft Eva ein zaghaftes Lächeln zu. Eine große, schlanke Frau, die blonden Haare von nur wenigen Silberfäden durchzogen. Sie klettert die Leiter herunter, geht auf Eva zu. »Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass du mal anrufst.«
    »Du hast ja angerufen.«

    »Nachdem ich monatelang nichts von dir gehört habe.«
    »Ich hatte nichts zu erzählen.« Einen Moment stehen sie schweigend voreinander. Gabriele etwas angespannt, ihre Haltung lässt erahnen, dass sie Eva gern umarmen würde. Aber sie tut es nicht, noch nicht, als wüsste sie, dass es dafür einfach zu früh ist.
    Eva lässt ihren Blick durch den Laden wandern. Plötzlich merkt sie, wie sehr ihr das gefehlt hat. Die Sicherheit, die sie spürt, sobald sie das Geschäft betritt. Hier ist alles geordnet. Sie weiß, wo die jungen Autoren stehen. Die Sachbücher, die Partnerschaftsratgeber, Steuertricks, Diätkochbücher. Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Lyrikbände. Alles hat seinen Platz. Und seinen festgelegten Preis. Keine Überraschungen, keine unerwarteten Ereignisse.
    Bevor Eva die Stelle ihrer Zwillingsschwester in »Gabys Bücherstube« übernommen hat, schrieb sie selbst. Keine Romane, sondern Noten und Textzeilen. Seiten voller Musik, Takt für Takt, die Melodiestimme hastig notiert, die Harmonien oft in Akkordsymbolen verkürzt, das war ihre Art, Geschichten zu erzählen. Aber seit Marlene fort ist, hat sie nie wieder ein Lied geschrieben. Und nie wieder eines gesungen. Nur noch ein einziges Mal auf der Beerdigung. Seitdem ist sie still.
    »Schön, dass du wieder da bist«, sagt Gabriele. »Wenn du magst, könntest du gleich mit der neuen Lieferung weitermachen, ich müsste mal kurz ein paar Telefonate erledigen.«

    »Okay«, sagt sie, froh darüber, sofort eine einfache Anweisung ausführen zu können und nicht mehr reden zu müssen.
     
    Um kurz vor sechs klingelt Evas Handy. Tobias.
    »Wo bist du?«
    »Im Buchladen, ich arbeite wieder.«
    »Das sollst du doch nicht.«
    »Wer sagt das?« Schweigen. Dann ein Seufzen.
    »Ich mache mir Sorgen um dich.« Zärtlichkeit in der Stimme, aber auch Traurigkeit.
    »Das brauchst du wirklich nicht.« Sie versucht, ebenso zärtlich zu klingen, und hofft, dass es ihr gelingt.
    »Ich finde eben, dass das noch zu anstrengend für dich ist.«
    »Es ist alles in Ordnung, die Arbeit tut mir gut, sie strengt mich nicht an. Und außerdem mache ich doch sowieso schon bald Schluss.«
    »Dann komme ich vorbei und hole dich ab.« »Sei nicht albern, es ist nur ein kurzer Weg bis nach Hause.«
    »Ich möchte dich aber abholen«, insistiert er. Jetzt hört sie ganz deutlich die Angst, die in seinem Tonfall mitschwingt. Angst vor … sie kann es nicht
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