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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester
Autoren: Wiebke Lorenz
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wohnte.
    Schneller, schneller, immer schneller lief ich. Bloß nicht stehen bleiben, immer weiter. So wie damals, als wir vor Papa davongerannt sind, weil er dir mal wieder eine Tracht Prügel verpassen wollte. Nur, weil wir in deinem Zimmer zu laut gewesen waren, weil du ein bisschen gesungen hattest, war er mit erhobenem Kleiderbügel auf dich losgegangen, hatte uns bis auf die Straße verfolgt. Wieder und wieder blickte ich über die Schulter, sah nach, ob Tobias mir auf den Fersen war. Als ich ihn nirgends entdecken konnte, wurde ich langsamer, nur ein bisschen, bereit, sofort wieder loszurennen, sollte er hinter mir auftauchen.
    Simon war überrascht, als er mir die Tür öffnete. Natürlich war er das. Mein nächtlicher Besuch, noch dazu in aufgelöster Verfassung, nachdem ich ihm bei der letzten Begegnung gesagt hatte, wir dürften uns nicht wiedersehen. Jetzt stand ich also vor ihm, weinend, atemlos, sagte ihm, ich sei gerade meinem Mann davongelaufen, würde ihn verlassen und wolle nur noch bei ihm, Simon, sein. Seine irritierte Reaktion, ich konnte sie nicht verstehen. Er nahm mich nicht sofort bei sich auf, wie ich es erwartet hatte, sagte mir nicht, dass er sich freue und nun alles gut werden würde.

    Stattdessen hilfloses Gestammel, ich solle mir das alles noch einmal gut überlegen und mich beruhigen, meinen Mann zu verlassen sei ein großer Schritt, da solle ich nichts übers Knie brechen. Er habe das Angebot bekommen, für einen Job nach Chicago zu gehen, da könne er mich nicht einfach so mitnehmen, wir würden uns ja kaum kennen. Doch, er habe mich wirklich gern und die Nacht mit mir sei wunderbar gewesen, aber das hier, so eine Entscheidung, die überfordere ihn, das müsse ich verstehen, dafür brauche er einfach mehr Zeit. Zeit, Eva, die ich nicht mehr hatte, die ich mir in diesem Moment nicht nehmen konnte.
    Ich verließ Simons Wohnung, blieb ratlos draußen auf der Straße stehen, wusste nicht, wo ich jetzt hin sollte, was ich noch tun könnte. Da habe ich mein Handy aus der Jacke geholt und dich angerufen. Wollte mit dir sprechen, dich sehen, wollte wissen, ob vielleicht da - wenigstens da noch! - etwas zu retten war und wir nach den vielen Jahren des Schweigens wieder zueinander finden könnten. Von Tobias hatte ich keine Erklärungen hören wollen, aber von dir, allerliebste Schwester, dafür in diesem Moment umso mehr.
    »Marlene!« Ich fuhr herum, als seine Stimme hinter mir erklang. Tobias. Er hatte mich gefunden, war mir entweder doch gefolgt oder hatte alles abgesucht und einfach Glück gehabt. Sofort rannte ich wieder los, kopflos, mich gleichzeitig fragend, warum ich es tat. Was sollte er schon tun, wenn er mich erwischte? Mich auf offener Straße zusammenschlagen, mich gewaltsam wieder mit sich nach Hause zerren? Das würde er nicht
tun, auch wenn um diese Uhrzeit nur noch vereinzelt Autos unterwegs waren, ansonsten weit und breit kein Mensch in Sicht.
    Aber dann schaltete sich die Vernunft erneut aus, der Reflex übernahm die Herrschaft, ich wollte einfach nur weg. Weg von Tobias, so weit es irgendwie ging, hin zu dir, noch einmal dort anfangen, wo wir vor Jahren aufgehört hatten, damals, als ich dich für ihn verließ. Taxen rauschten an mir vorbei, manche von ihnen leer, aber der Abstand zu Tobias würde nicht reichen, um eines heranzuwinken und einzusteigen. Vom Eppendorfer Weg lief ich nach links, direkt auf die U-Bahn-Station Hoheluftbrücke zu, betend, dass noch ein Zug fahren würde, egal, in welche Richtung, Hauptsache, er käme schnell, und ich würde ihn erreichen, bevor Tobias mich eingeholt hätte.
    »Bleib endlich stehen!«, hörte ich ihn leise hinter mir rufen, der Abstand zwischen uns wurde immer größer. »Lass uns vernünftig miteinander reden!« Doch ich lief immer weiter, blieb nicht stehen, ich war schon so lange stehen geblieben in den vergangenen Jahren.
    Endlich erreichte ich die Station, rannte achtlos an den Fahrkartenautomaten vorbei, hetzte die Stufen der Treppe hoch, immer zwei auf einmal nehmend. Oben angelangt war der Bahnsteig menschenleer, nur auf einer der Bänke die schemenhaften Umrisse einer Gestalt, vielleicht ein Penner, der es sich hier gemütlich machte. Panik stieg in mir auf, es musste noch ein Zug fahren, es musste!
    »Marlene.« Dann war er da. Hatte mich eingeholt,
stand schwer atmend vor mir, wischte sich den Schweiß von der Stirn und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. »Wo willst du denn hin? Bitte, lass uns nach Hause gehen
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