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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester
Autoren: Wiebke Lorenz
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den sie zwischen sich und Hamburg bringt, spürt sie mehr und mehr Leichtigkeit in sich aufsteigen. Sonst wirst du nie erfahren, was die Wahrheit ist. Einer der letzten Sätze, die Marlene zu ihr gesagt hat. Kurz hat sie überlegt, zu Tobias zu fahren, in seine Agentur, ihn vor versammelter Mannschaft zur
Rede zu stellen, ihn zu fragen, warum er sie angelogen und nie erzählt hat, dass Marlene ihn verlassen wollte, dass sie von ihm weggelaufen ist. Nur, damit sie, Eva, ihn nicht verließ? Damit sie bei ihm blieb, die gemeinsame Schuld an Marlenes Tod mit ihm teilte. Am Ende haben sie alle Schuld. Tobias, Simon und Eva. Was auch immer genau passiert ist, daran ist nichts mehr zu ändern.
    Ihr Handy klingelt, sie muss nicht einmal aufs Display sehen, um zu wissen, wer es ist, ihr Ring wurde offenbar gefunden. Sie nimmt es, drückt den Anruf weg, öffnet das Fenster und wirft das Handy bei voller Fahrt hinaus, sieht im Rückspiegel, wie es auf dem Asphalt in viele kleine Stücke zerspringt. Das Fenster lässt sie offen, fühlt den Wind, der ihre Haare zerzaust, drückt das Gas noch ein bisschen weiter durch, legt eine Hand auf ihren Bauch und singt dann wieder laut zu der Musik mit, die aus den Lautsprechern dröhnt.

EPILOG
    Jetzt will ich ein Geheimnis erzählen, das kein Mensch außer mir kennt.
    Ich war im Schlafzimmer, riss eilig Kleidungsstücke aus dem Schrank, warf sie in eine Reisetasche, achtete nicht einmal darauf, was genau ich einpackte, ein paar Sachen nur, die für die nächsten Tage reichen würden. Es war ungefähr elf Uhr abends, vielleicht auch schon halb zwölf, auf alle Fälle so spät, dass Tobias jeden Moment nach Hause kommen könnte. Und bis dahin müsste ich fort sein, müsste alles ins Auto geworfen und davongefahren sein, zu ihm, ich hatte ja sonst niemanden mehr, verstehst du?
    Sie begann diese unsägliche Geschichte, als Tobias und ich beschlossen, dass ich nach dem dritten Staatsexamen nicht mit dem ›Arzt im Praktikum‹ beginnen sollte, sondern wir uns erst einmal auf die Familienplanung konzentrieren würden. Mitte zwanzig war ich da, du erinnerst dich vielleicht, genau das richtige Alter fürs erste Kind, jung genug, damit noch alles unkompliziert verläuft. Innerhalb des nächsten Jahres, da waren wir uns ganz sicher, wäre ich schwanger. Wir freuten
uns unbändig darauf, Tobias vielleicht noch ein bisschen mehr als ich. Meine Kommilitonen schüttelten alle nur mit dem Kopf, konnten nicht verstehen, dass ich nach dem langen Studium erst einmal pausieren wollte. Aber Tobias und ich waren uns einig. Zwei Kinder - so viele wollten wir mindestens -, und wenn diese alt genug wären, um den Kindergarten zu besuchen, könnte ich weitermachen, wenn ich dann noch wollte. Alles schien möglich, wir wollten nur erst abwarten, was die Zeit bringt und wie das Leben als Familie laufen würde.
    Aber dann passierte es nicht. Es klappte einfach nicht. Im ersten Jahr waren wir nicht weiter besorgt. Im zweiten Jahr und nach zahlreichen Untersuchungen, die allerdings nichts brachten, nichts erklärten, schon skeptischer. Im dritten Jahr kam die Verzweiflung hinzu. Und Entfremdung. Wir drifteten auseinander, Stück für Stück. Der Kinderwunsch, er hielt uns nicht mehr wie anfangs zusammen, auf einmal stand er zwischen uns, ein meterhohes Hindernis, an dem unsere monatlichen Versuche, es zu überwinden, immer wieder scheiterten. Sex war kein Sex mehr, sondern eine Pflichtbegattung nach Terminplan. Einfach so und aus purer Lust heraus - daran war zumindest Tobias eben genau die Lust vergangen.
    Ich kann nicht sagen, ob es vielleicht damals schon anfing oder etwas später, wer weiß, in jedem Fall nicht erst in den letzten paar Wochen. Aber es veränderte uns, wir veränderten uns. Mit jedem Test, den ich machte, kaum dass die Regel auch nur einen Tag auf
sich warten ließ. Voller Hoffnung, die doch jedes Mal, wenn er negativ ausfiel und die Blutung wie bestellt nur wenige Stunden später eintrat, wieder zerschlagen wurde, mit jedem dieser verdammten Tests wurde es schlimmer. Das Grübeln über das Warum, die Suche nach der Antwort, weshalb ausgerechnet mir die normalste Sache der Welt verwehrt blieb, diese eine Sache, diese eine Leistung, die ich nicht erbringen konnte, wo ich doch sonst noch nie versagt hatte, niemals und in keinem Bereich.
    Die Art und Weise, wie Tobias mich irgendwann ansah, wie er durch mich hindurchsah, als wäre ich nur noch ein Hohlkörper. Funktionslos, defekt, keine ganze, keine
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