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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind
Autoren: L Mer
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Eins
    Am Nachmittag hörte Blanka die Krähen wieder, selbst durch das geschlossene Fenster. In dem schmalen Ausschnitt zwischen den Samtvorhängen sah sie den Schwarm kaum, nur eine dunklere, seltsam bewegte Wolke in den kahlen Ulmen unten an der Straße. Aber sie hörte das Krächzen. Es fing sich unter dem niedrigen Winterhimmel, dem fleckigen Weiß. Scharf klang es, brüchig, durchdringend. Klingen auf Glas. Aber sie zog die Vorhänge nicht zu. Sie wartete – wartete. Auf der Straße rührte sich nichts.
    Schneeflocken taumelten draußen hinter der Scheibe vorbei, auf das Fenstersims, in den leeren Blumenkasten. Nicht viele, man hätte sie zählen können. Aber was bedeutete das schon? Eine einzige Flocke konnte einen Schneesturm ankündigen, der Häuser bis zum Dach unter sich begrub und fahrende Kutschen in Verwehungen riss, aus denen sie nie wieder auftauchten. Bauern erfroren auf dem Weg zwischen Kate und Stall, Kinder liefen zur Dorfschule und kamen nicht an. Kleine Schuhe fand man dann im Frühling, manchmal. Alles andere nahmen die Füchse mit und die Wölfe aus dem Siebengebirge. Noch hatte sie sie nicht heulen gehört. Aber was bedeutete das schon?
    Es war einmal, dachte Blanka von Rapp und legte die Hände in weißen Satinhandschuhen auf das Fensterglas. Es war einmal, mitten im Winter …
    Schauder liefen ihr den Nacken hinunter. Mochte sein, dass man in der Stadt den Winter für ein großes Vergnügen hielt, eine wunderbare Dekoration für das Schlittschuhlaufen unter Lampions und Drehorgelmusik. Auf dem Land wusste man es besser. Wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagten – jede Nacht, und immer nur einmal. Zumindest der Hase.
    Sie lachte nervös auf, blickte sich sofort um, aber das kleine Damenzimmer hinter ihr war leer. Das Hausmädchen stand schon vorn in der Halle, wartete, wartete wie sie. Sie strich sich mit der Hand den Nacken hinauf, gegen die Schauder; fand eine lose Haarsträhne und nestelte sie in die Kämme zurück, mühsam, wegen der Handschuhe.
    Einmal, mitten im Winter …
    Wurden die Krähen draußen lauter? Es war so schwer zu sagen. Ihr Krächzen hallte gegen die schweren Wolken an, brach sich, ohne je ganz zu verschwinden. Vielleicht wünschte sie sich nur, dass es lauter geworden war. Oder fürchtete sie sich davor? Sie wusste nicht einmal, ob es überhaupt Krähen waren. Vielleicht dachte sie es nur, weil jener andere Name, jener andere Vogel, den Nachmittag noch mehr verdüstert hätte. Aber passend – passend waren sie beide. An diesem Tag mehr noch als an all den anderen endlosen, bleichen Wintertagen, die sich auf die Sonnenwende zu schleppten. Weit war es nicht mehr bis dahin.
    Ja, sie riefen lauter, schriller. Blanka schmiegte die Schulter in einen der Vorhänge, in den rauen Samt. Der Stoff bewegte sich träge. War es, weil sie zitterte? Aber sie stand ja hier drinnen, hinter den dicken Fensterscheiben. Es musste ein Luftzug sein, der sich im großen Haus gefangen hatte, irgendwo, und ruhelos durch alle Räume trieb. Lautlos, wie die Flocken draußen.
    Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen …
    Die dunkle Wolke in den Ulmen wurde unruhiger, Schatten tanzten im trüben Licht über den Schnee. Kamen sie? Kamen sie jetzt? Auf der Straße regte sich immer noch nichts. Aber die Straße bog sich zur Seite, verschwand hinter den Bäumen. Lief versteckt ins Dorf hinein, am Kirchhof vorbei und dann wieder hinaus – zum Wald, dem tiefsten aller Schatten, am verwischten Horizont, wo er langsam anstieg, zu den Bergen hin. Der Wald, dessen Ausläufer das Dorf umschlungen hielten, fast bis zum Herrenhaus hinaufkrochen hinter dem Park. Düsternis zwischen schwarzen Stämmen … Sie sah weg, straffte den Rücken unter dem schweren Kleid. Hinter den Fingern der einen Hand, die immer noch auf der Scheibe lag, stachen die Bäume hervor, harte Konturen selbst im schwachen Winterlicht. Aber rechts davon, gleich neben ihrem Handrücken, senkte der Boden sich weich zum Park hin ab. Verschneite Wege schlängelten sich dort zwischen niedrigen weißen Hecken, verloren sich weiter hinten im Winterdunst. Keine Kanten dort, keine harten Schatten. Eine blanke Leinwand zwischen niedrigen weißen Hecken. Nur zwei einzelne dunklere Flecken darauf, Steine, die der Wind freigeweht hatte, oder –
    Blanka blinzelte, und es brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass sie in ihre eigenen Augen geblickt hatte. Wie losgelöst ihr Spiegelbild dort draußen, die Gesichtszüge
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