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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind
Autoren: L Mer
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Park schon sehen.“ Johanna rutschte höher auf dem Sitz. „Da drüben, da ist die Hecke. Wir wären bestimmt schneller zu Fuß.“
    Anton schnalzte missbilligend mit der Zunge.
    „Hören Sie jetzt auf!“ Sophie versuchte, aus dem rechten Fenster zu sehen, ohne dass ihr Blick sich zu sehr in die Ecke verirrte, wo der Herr saß, dem Mädchen gegenüber. In dem schwarzen Pelz, der mit den Schatten verschmolz, vergaß man ihn fast, stumm, wie er dasaß, seit Stunden schon. Worüber grübelte er? Oder schloss er sie nur aus seiner Welt aus, die schimpfende Gouvernante, den schlecht gelaunten Diener und das plappernde Kind?
    „Stören Sie ihn nicht“, flüsterte sie wieder, aber Herr von Rapp reagierte nicht, und das Mädchen hatte recht: Eine Erhebung im Weiß zog vorbei wie ein verschneiter Lindwurm, und dahinter dunstige Schemen einer hügeligeren Landschaft. Das Herrenhaus am Hang war immer noch nicht zu sehen, die Bäume verbargen es. Aber weiter oben, auf dem Scheitel der Anhöhe, tauchten jetzt die ersten Formen von Gebäuden auf, vage Ahnungen zuerst, dann deutlicher: eine massige Halle mit mehreren klobigen Schornsteinen, geduckte Häuschen um sie herum gruppiert. Rauch stieg von den Schornsteinen auf und vermischte sich mit dem Winterdunst. Und darüber, auf dem höchsten Punkt des Hügels, ragte ein gewaltiger Kegel aus roten Ziegeln auf, ein wuchtiger Turm, der beinahe in die Wolken stieß.
    „Die Glashütte“, sagte Sophie überrascht und viel zu laut. „Es ist wirklich nicht mehr weit. Gleich müssten wir auch das Haus sehen können. Also reißen Sie sich jetzt zusammen, Fräulein Johanna.“
    „Aber ich will …“
    „Eine junge Dame“, sagte Sophie mit ihrer strengsten Gouvernanten-Stimme, bevor Anton wieder schnalzen konnte, „springt nicht im Schnee herum wie ein Welpe. Sie bleibt sittsam und anständig in der Kutsche, bis sie am Ziel ist und man ihr hinaushilft. Und zu wollen hat sie schon gar nichts. Sonst endet sie in der Gosse und muss Fische verkaufen, für einen Pfennig das Pfund, bis sie im Dreck umkommt und elend hungers stirbt.“
    Anton kicherte durch die Nase. Der schwarze Schopf unter der verrutschten Fellmütze ruckte in die Höhe.
    „Niemand kann am Dreck und am Hunger sterben!“
    „Fräulein Johanna!“
    Sophie langte unter das Reiseplaid, packte den dünnen Mädchenarm und riss heftig daran, so heftig, dass sie ihm den Handschuh halb auszog. „Au!“, schrie Johanna auf, „au, au!“
    „Na!“ Die tiefe Stimme füllte plötzlich die Kutsche, wie ein schweres, weiches Tuch. Johann von Rapp richtete sich in seiner Ecke auf. „Was ist denn auf einmal los? Ärger, Fräulein Sophie? Johanna?“
    Ertappt, alle beide. Sophie ließ das Mädchen los und setzte an zu einer Erklärung. Johanna kam ihr zuvor.
    „Gar kein Ärger, Herr Papa“, sagte sie artig und zog schnell die verrutschte Decke zurecht. „Ich will nur“ – „möchte!“, zischte Sophie – „ möchte nur – nur so gern noch zum Springbrunnen gehen, bevor es dunkel wird. Aber Fräulein Sophie sagt, es ist zu weit. Bestimmt hat sie recht. Aber es ist so schade.“
    Sie sah ihn bittend an mit ihren hellen, bachklaren Augen. Ihr Vater blinzelte und schenkte ihr ein schiefes Lächeln.
    „Sicher hat sie das, und wir sind doch auch bald oben beim Haus. Ist dir denn gar nicht kalt, Fratz? Der Schnee draußen ist nichts für zarte Mädchenfüße.“
    „Meine Stiefel sind warm“, behauptete Johanna, und Sophie schüttelte innerlich den Kopf. Das Mädchen trug zierliche Besuchsstiefel wie sie selbst auch. Aus hauchdünnem Leder. „Ich könnte gut ein wenig gehen. Und ich muss doch der Prinzessin beim Brunnen sagen, dass ich wieder zurück bin.“
    „Frau von Rapp wartet oben sicher schon auf uns“, wandte Anton steif ein. „Es wäre nicht nett, noch im Park herumzubummeln. Mit der Kutsche sind wir in ein paar Minuten da.“
    „Na“, sagte Herr von Rapp wieder und streckte unauffällig die Beine aus, „wenn die Straße ansteigt, zum Haus hin, wird es schon recht langsam gehen. Alles ist vereist, und wir haben zu viel Gepäck.“
    Er nickte zum Kutschendach hoch. Quietschende Geräusche kamen von dort, ein Schleifen, ein Rutschen. Erst jetzt erinnerte Sophie sich an die große flache Kiste, die vor der Rückfahrt so mühsam oben festgezurrt worden war. Drei Männer hatte es dafür gebraucht, und der Kutscher hatte immer noch eine bedenkliche Miene gemacht. Die Kiste war so breit, dass sie an beiden Seiten
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