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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind
Autoren: L Mer
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schon nicht mehr.
    Sie trat zurück, wieder einmal geschlagen, und es war ihr, als ob sie jemanden lachen hörte. Für einen eisigen Augenblick glaubte sie, sie sei es selbst gewesen. Voll klang es, nachtdunkel, und spöttisch wie blinkende Sterne. Und fern, unendlich fern … Nein, sie hatte noch niemals spöttisch gelacht. Und niemals so dunkel samten. Und außer ihr war niemand mehr in der Halle.
    „Du dummes Ding“, flüsterte Blanka sich zu. „Du dummes, dummes kleines Ding. Haltung, Blanka.“
    Sie richtete sich auf, merkte erst in der Bewegung, dass sie sich gekrümmt hatte wie gegen einen Schlag. Niemand hatte gelacht. Das waren nur wieder die schwachen Geräusche aus der Glashütte oben, oder die Krähen in der Ulme. Die dummen Krähen.
    Sie schob die behandschuhten Finger in den Pompadour, der an ihrem Rock befestigt war, und zog ein braunes Fläschchen heraus.

    „ Fowlersche Lösung. Ausgezeichnetes Stärkungsmittel. Bei Fieber, Schwäche, Epilepsie und zur Beruhigung von Nervenschmerz. Fünf Tropfen in Wasser, dreimal täglich einzunehmen. Nicht ohne ärztliche Aufsicht über einen längeren Zeitraum anwenden.“

    Als sie es öffnete, stieg daraus der Duft von Lavendel auf, er umfing sie beruhigend. Sie trank einen Schluck, wartete auf den leichten Schwindel, der immer folgte, und als er sie umfasste, war es eine vertraute Berührung, wie ein oft benutztes Schultertuch. Es verging schnell wieder, und auch das Zittern ließ nach.
    Pflichtschuldig machte Blanka sich daran, die Perlenschnüre an der Lampe zu entwirren. Sie würde zurückgehen und am Fenster warten. An ihrem Platz. Wie immer.

    Im Schnee wirkte die Prinzessin noch zarter als sonst. Der Wind der letzten Tage hatte ihr einen weißen Mantel umgelegt, über die schmalen Schultern und die hauchdünnen Kleiderfalten, die an ihrem mädchenhaften Steinkörper hinunterfielen. Stein, der aussah wie atmendes Fleisch; Stein, der sachte spielte, wie feinste Sommerseide. Wie war es dem Künstler nur gelungen, dem harten, behauenen Felsen so viel Leben einzuhauchen? Sophie fragte sich das oft. Und noch öfter, mit ganz feinem Spott, wie der hochanständige Johann von Rapp wohl auf den Gedanken gekommen war, eine solche knapp bekleidete Unzüchtigkeit in seinem Park aufzustellen, ausgerechnet zur Hochzeit damals, wenn man den Gerüchten glauben konnte. Nun, immerhin war sie gut versteckt.
    Die Prinzessin stand auf dem kleinen Springbrunnen am Rande des Parks, dort, wo die sorgfältig gestutzten Hecken im Sommer übergingen in die ersten Bäumchen des Waldrands. Man konnte das Haus am Hang von dort gerade noch sehen, und die Glashütte darüber, ein wenig nach links versetzt. Aber die Gebäude wirkten weit entfernt, entrückt, wie die Prinzessin selbst. Fast schien es so, als schwebe ihr winziger bloßer Fuß über dem Sockel in der Mitte des Beckens, als drehe sie sich, halb tanzend, in der Luft darüber, auf den Wald zu. Man musste sehr genau hinsehen, um die steinernen Verstrebungen zu erkennen, die sie an den Brunnen banden. Im Sommer spielten die niedrigen Fontänen von allen Seiten darüber hin; und aus dem großen Kelch, den sie in die Höhe hielt, quoll das Wasser und versprühte tausend Kristalle.
    Jetzt war der Brunnen stumm, die Prinzessin tanzte nicht, und der Schneemantel bedeckte sie beinahe ganz, bis auf den bloßen rechten Arm. Das Krönchen auf ihrem Lockenkopf stach spitz in den niedrigen Winterhimmel, das Gesicht darunter war halb den Wolken zugewandt. Eigenartig konturlos die Stirn, die Wangen, flacher, unklarer als die Falten im Gewand. Die Nase war kaum vorhanden. Lachten die unscharf geschwungenen Lippen, oder verzogen sie sich wehmütig? So verschwommen der Ausdruck, dass er nicht zu deuten war.
    Johanna strahlte.
    „Sie ist noch da, sie ist immer noch da!“
    „Natürlich ist sie das, mein dummer Fratz“, rief Herr von Rapp und beschleunigte seine Schritte. Sophie hastete mit Anton hinterher. Tief unter dem Rock, in dem losen Schnee, schlappte ihr Überschuh.
    „Fräulein Johanna“, mahnte die Gouvernante leise. Das Mädchen hüpfte schuldbewusst vom Brunnenrand.
    „Verzeihung, Fräulein Sophie, aber ich bin anders nicht hingekommen. Sehen Sie doch – und Sie, Papa! Meine Blume ist auch noch da!“
    Hinter ihrem Herrn trat Sophie an den Brunnen, ergeben, denn für sie hatte der Zauber sich schon längst abgenutzt. Im Bassin hatten die Kinderhände den losen Schnee unordentlich beiseitegewischt. Die Eisschicht darunter war
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