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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester
Autoren: Wiebke Lorenz
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Siehst du?«
    Marlene. Jetzt betrachtet Eva sich im Spiegel. Das gleiche Gesicht. Porzellanteint, an den Wangen scheinen die Adern durch, ganz zerbrechlich und dünnhäutig sieht sie aus. Dazu die stahlblauen Augen. »Wie bei einem Husky«, findet Tobias. Der Kontrast ist umso stärker, als sie kastanienbraunes Haar hat. Früher hat sie die Wirkung ihrer Augen bewusst eingesetzt. Es machte ihr Spaß, sie weit aufzureißen, dann ein unschuldiger Blick von unten nach oben. Der wirkte immer, darauf konnte sie Wetten abschließen.
    Aber damals gab es ja auch Marlene noch. Marlene
mit den gleichen Gesichtszügen. Mit dem gleichen kastanienbraunen Haar. Mit den gleichen Husky-Augen. Nur eine Narbe über Evas linker Augenbraue unterschied sie voneinander. Und eine Nacht im Mai vor über drei Jahren.
    Sie, Eva, irgendwo in Altona, in einem fremden Bett bei einem fremden Mann. Den Namen hat sie vergessen, sie erinnert sich nur noch an die Fußmatte vor seiner Wohnungstür, auf der »Moin, moin!« stand. Etwa zur gleichen Zeit: Marlene, vier Kilometer weiter nordöstlich. Am Bahnsteig der U3, Hoheluftbrücke. Eva weiß nicht, ob der Lokführer noch rechtzeitig hätte bremsen können, wenn er Marlene früher gesehen hätte und nicht erst, als sie schon vor ihm auf den Gleisen lag. Sie weiß nur, dass Tobias am Morgen bereits vor ihrer Wohnung auf sie wartete, als sie nach einer langen Nacht nach Hause kam. Und dass sie genervt war, weil sie gerade keine Lust auf Besuch vom Mann ihrer Schwester hatte. Dann der Satz: »Marlene ist tot.«
    »Wie, tot?«, fragte sie.
    »Sie ist tot«, brüllte Tobias sie an. Er fing an zu weinen. »Tot! Deine Schwester hat sich vor die U-Bahn geworfen!« Erst Tage später, als die betäubende Wirkung des Beruhigungsmittels wieder abebbte, merkte Eva, dass Marlene noch in der gleichen Nacht vergeblich versucht hatte, sie zu erreichen - ihr Handy zeigte einen Anruf in Abwesenheit an. Sie hatte das Klingeln zwar gehört, das Telefon dann aber ausgeschaltet, um nicht mehr gestört zu werden. Nein, sie hatte
sich nicht mal die Mühe gemacht, aufs Display zu gucken, sie war ja damit beschäftigt gewesen, irgendeinen Kerl zu vögeln, als ihre Schwester sie brauchte. Als sie ihr vielleicht erklären wollte, warum das Leben plötzlich sinnlos für sie geworden war. Jetzt war es zu spät. Marlene war tot. Und Eva würde nie erfahren, warum.
    Die Wochen darauf verstrichen wie im Nebel. In Evas Kopf ständig nur die Bach-Arie, die sie auf Marlenes Beisetzung gesungen hatte. Bist du bei mir, geh’ ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh’. Bis heute weiß sie nicht, warum Marlene es getan hat. Für solch ein schreckliches Ende gab es keinen Grund, keinen wirklich triftigen Grund. Und auch keine handfesten Indizien, von Beweisen ganz zu schweigen, denn niemand sah etwas in dieser Nacht. Bis auf einen betrunkenen Penner war der Bahnsteig leer, die Aussage des Mannes, sein wirres Gefasel, vollkommen unbrauchbar. Einen Engel habe er gesehen, einen echten Engel, der mit ausgebreiteten Armen Richtung Himmel flog. Nicht zu verwerten, kein Anhaltspunkt für nichts. Und die Überwachungskameras - in dieser Nacht fiel die Anlage wegen Wartungsarbeiten vorübergehend aus.
    Letztlich kam die Polizei also zu dem Schluss, dass es Selbstmord gewesen sei. Was sucht eine Frau auch sonst mitten in der Nacht an einer U-Bahn-Station, noch dazu, wenn sie ein Auto besitzt und sonst so gut wie nie öffentliche Verkehrsmittel benutzt? Auch der verpasste Anruf stützte diese Annahme. So spät rief Marlene nie
an, es sei denn, es war etwas Wichtiges. Und sich umbringen zu wollen - das ist wohl eine wichtige Mitteilung.
    Tobias, ebenfalls ratlos, versicherte, zum fraglichen Zeitpunkt bereits geschlafen und folglich nicht bemerkt zu haben, wie seine Frau sich aus dem Haus schlich. Nein, erklärte er, sie sei ganz normal gewesen, als er sehr spät am Abend von der Arbeit heimkam, ein bisschen traurig vielleicht, weil der Schwangerschaftstest vom Morgen mal wieder negativ ausgefallen war und sie doch schon so lange versuchten, ein Kind zu bekommen. Aber nie hätte er gedacht, dass Marlene darüber so verzweifelt war, dass sie - nein, so eine Tat hätte er nicht vermutet. Und noch viel weniger, dass Absicht dahinterstecken könnte, dass sie geschubst worden war. Nein, Marlene hatte keine Feinde, man konnte sie nicht hassen, man konnte sie nur lieben.
    Wenn es überhaupt einen Täter geben sollte, denkt Eva jetzt, während sie vor dem
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